Schwer atmend hievt der betagte Mann am Altonaer Bahnhof seinen Rollator­ in den Bus der 15er-Linie, späht nach einem Sitzplatz. Als er seinen Rollator schnaufend dreht, ruft eine ältere Dame: „Seien Sie vorsichtig. In unserem Alter muss man aufpassen, dass man nicht fällt. Ich werde ja bald selbst 94.“

Der Senior droht lächelnd mit dem Zeigefinger: „Nicht schummeln, Sie sind doch gar nicht so alt.“ Doch, bekräftigt die Dame: „Ich bin Jahrgang 1925.“ Als der Bus sich Meter für Meter in die Holländische Reihe schiebt, deutet sie auf ein Haus, das sich gegenüber dem mächtigen Rathaus Altona duckt: „Dort im Parterre haben wir gewohnt, als meine Familie in der Wirtschaftskrise unser Haus in Othmarschen verloren hat.“ Die Nazis, sagt sie dann, seien schrecklich gewesen. „In der Schule mussten wir immer aufsagen, ,Händchen falten, Köpfchen senken und an Adolf Hitler denken.‘ Das kann man sich gar nicht mehr vorstellen.“ Dann der Krieg. Die Bomben, die Angst in Bunkernächten.

Fahrgäste lauschen gebannt, die 15er-Fahrt nach Othmarschen verwandelt sich in eine Zeitreise. Die alte Dame sagt noch, wie dankbar sie der 68er-Bewegung sei. Und dass wir nie vergessen dürften, wie gut es uns jetzt gehe.

Ihre Lebenserfahrung aus fast 94 Jahren wird sie in keinem der oft genug asozialen Netzwerke teilen, wo Wutbürger gegen Minderheiten hetzen. Sie wird auch nicht mehr demonstrieren können gegen stiernackige Männer, die wieder ungestraft auf deutschen Plätzen die rechte Hand zum Hitlergruß erheben. Aber ihre Worte haben jeden, der ihr zuhören durfte, berührt. Auf der Fahrt mit dem 15er-Bus nach Othmarschen.