Hamburg. Die Hamburger Hockey-Torhüterin Silja Paul braucht nach einem Leukämie-Rückschlag einen Stammzellenspender.

Hinge nicht der Spender neben der Eingangstür, mit dessen Inhalt sich jeder Besucher die Hände mit ein paar Spritzern Desinfektionsmittel benetzen muss, dann könnte man in diesem Raum die Krankenhauswelt um sich herum vergessen. Und genau das ist der Grund dafür, warum Silja Paul ihn sich ausgesucht hat für die dunklen Phasen. Für die kurzen Momente, in denen der Tod näher scheint als das Leben; in denen die Zuversicht sich hinter der Angst vor dem versteckt, was kommen könnte. Für jene emotionalen Ausbrüche eben, in denen der 19-Jährigen klar wird, welchem Gegner sie gegenübersteht, und dass es ein extrem harter Kampf werden kann, bis sie ihn besiegt haben wird.

Dass sie ihn besiegen wird, diesen heimtückischen Blutkrebs, daran zweifelt sie nicht. Es ist ihr ja schon einmal gelungen, im vergangenen Jahr. Am 14. April 2016 hatte die Diagnose auf akute myeloische Leukämie (AML) das Leben der Hamburger Hockeytorhüterin umgekrempelt. Fünf Monate kämpfte sie in einer langwierigen Chemotherapie im Universitätsklinikum Eppendorf (UKE) gegen die Krankheit. Mitte September war der letzte Behandlungszyklus abgeschlossen, Mitte November stieg sie nach Beendigung der Reha in der Nachsorgeklinik Tannheim im Schwarzwald wieder ins Training bei den Bundesligadamen des Großflottbeker THGC ein. Sie wusste, dass sie noch nicht geheilt war, das ist erst der Fall, wenn über fünf Jahre keine Krebszellen mehr nachweisbar sind. Aber ihr Gefühl war ein anderes. Silja war wieder zurück im Leben.

Typisierung am Sonnabend im Christianeum

Ein Jahr später sitzt die ehemalige Jugendnationalspielerin, der manche Experten den Weg zu Olympischen Spielen geebnet sahen, in dem kleinen Raum, der auf der Leukämiestation des UKE als Musiktherapiezimmer genutzt wird. Ihren kahlen Kopf verbirgt sie unter einem Tuch. In der Halsvene steckt der zentrale Venenkatheter, ein dünner Plastikschlauch, der oberhalb des rechten Herzvorhofs endet, um direkten Zugang zum Blutkreislaufsystem zu gewähren. Drei verschiedenfarbige Schläuche hat man ihr auf das rechte Schlüsselbein geklebt, darüber können die notwendigen Medikamente zugeführt werden. „Am Anfang drückte die Kanüle ziemlich, aber mittlerweile spüre ich sie kaum noch“, sagt Silja, und dabei zeigt sie dieses schelmische Grinsen, das so ansteckend ist, dass kein Desinfektionsmittel dieser Welt dagegen anstinken kann. Doch dazu später mehr.

Neue Krebszellen entdeckt worden

Der Krebs hat sich zurückgeschlichen in ihren Körper, er kam leise wie ein Dieb in dunkler Nacht. Silja hatte wie vorgeschrieben jeden Monat ihre Nachsorgetermine wahrgenommen, und bei einer Knochenmarkspunktion, die einmal pro Quartal durchgeführt werden muss, waren am 13. Juli Krebszellen entdeckt worden. Weil sie nach der Untersuchung vier Wochen in den Sommerurlaub gefahren war, erhielt sie die Ergebnisse erst danach. „Das war für mich ein ziemlicher Schock, weil ich überhaupt nichts gemerkt hatte. Im Urlaub hatte ich viel Sport gemacht und mich richtig fit gefühlt, ich wollte zur neuen Feldsaison wieder voll angreifen“, sagt sie.

Medizinisch war ihr Gefühl leicht erklärbar. Der Krebs hatte noch nicht ins Blut gestreut, sondern war nur im Knochenmark nachweisbar. Zudem war der Allgemeinzustand der Athletin deutlich besser als im vergangenen Jahr, als eine schwere Darmentzündung für zusätzliche Komplikationen gesorgt hatte. Was diesmal jedoch schwerer wog, waren die emotionalen Begleitumstände.

Zweite Punktion

Um den Befund bestätigen zu können, wurde fünf Wochen nach dem 13. Juli eine zweite Punktion durchgeführt. Die zwei Wochen danach, bis das endgültige Ergebnis feststand, durchlitt Silja wie einen Psychothriller in Dauerschleife. „Die Ungewissheit war furchtbar, ich war sechs Tage und Nächte durchgehend wach, die Gedanken rotierten“, sagt sie. „Man versucht es zu verdrängen und bereitet sich zugleich auf das Schlimmste vor. Man versucht optimistisch zu bleiben, stellt sich unterbewusst aber darauf ein, dass der normale Alltag nur noch kurz dauern wird.“

Das menschliche Gehirn ist ein Mysterium; niemand vermag zu erklären, warum manche Menschen unter der Diagnose Krebs zusammenbrechen und andere dagegen dann erst ihren Lebensmut entdecken. Für Silja Paul war die Diagnose, dass die Leukämie zurückgekehrt war, wie eine Befreiung. „Das mag komisch klingen“, sagt sie, „aber in dem Moment, als ich wusste, was los ist, habe ich sofort wieder in den Kampfmodus schalten können“, sagt sie. Der Gegner war aus dem Nebel der Ungewissheit getreten, „und ich war sofort überzeugt davon, dass ich ihn ein zweites Mal besiegen werde.“

Unbändiger Lebensmut

Ende August tauschte die Torhüterin, die im April aus ihrer Heimat Itzehoe in eine Wohngemeinschaft nach Ottensen gezogen war, ihr neues Zuhause wieder gegen das ein, was sie „fast schon als zweite Heimat“ bezeichnet. Natürlich klingt es traurig, wenn sie die Rückkehr auf die Leukämiestation beschreibt „wie ein Nachhausekommen“ und das Leben in der Parallelwelt Krankenhaus „wie eine Routine“. Aber andererseits half es ihr, die Abläufe zu kennen; zu wissen, was sie erwartet. Die Ärzte und Pfleger, die sie mag, sind alle noch da, „die wussten sogar noch genau, dass ich lieber Frischkäse als Salami esse“.

Und selbst eine Leidensgenossin aus dem vergangenen Jahr, die auch einen Rückfall erlitten hat, ist wieder auf der Station. Mit ihr hatte Silja damals Kinderlieder aus dem Internet heruntergeladen und lauthals mitgesungen. Das tun sie auch jetzt wieder, sie spielen Tisch­kicker und Karten, werfen mit Gummibällen auf einen kleinen Basketballkorb und lachen dabei laut und viel. Es ist ihre Art der Verarbeitung, und mit ihrem ansteckenden Lachen und dem unbändigen Lebensmut ist Silja zum Vorbild für andere Patienten geworden.

Positiv denken

„Mir hat es unheimlich geholfen, positiv zu denken und mich durch nichts von der Überzeugung abbringen zu lassen, dass ich wieder gesund werden würde“, sagt sie. Selbstmitleid ist ein Wort, das in ihrem Sprachgebrauch auch jetzt keinen Platz findet. „Früher habe ich Erkältungen gehasst. Jetzt bin ich froh, wenn ich mal nur ein bisschen Kopfschmerzen und Schnupfen habe“, sagt sie. Und Blutabnehmen, das sie früher auch nicht mochte, sei für jemanden, der regelmäßig Knochenmarkspunktionen überstehen oder eine Kanüle in der Halsvene erdulden muss, auch nur noch eine kurze Pflichtübung.

Und doch ist etwas anders als während der ersten Behandlung. Silja hat gelernt, negative Gefühle zuzulassen. In der ersten Krankheitsphase sei sie körperlich zu ausgelaugt gewesen, um Kraft für die Seelenarbeit aufzubringen. „Ich habe alles Negative verdrängt und meine ganze Stärke in den Kampf gegen die Leukämie gelegt“, sagt sie. Nicht ein einziges Mal habe sie geweint damals. Das hat sich nun verändert. Die Grundeinstellung, die Überzeugung, erneut über den Krebs zu siegen, ist weiterhin da. Aber das Verdrängen funktioniert nicht mehr, und Silja hält das für einen wichtigen charakterlichen Reifeprozess.

Sie hat sich das Klavierspielen beigebracht

Wenn also dunkle Gedanken reifen, meistens abends, wenn die Besucher weg sind und es Zeit ist zum Schlafen und zur Beschäftigung mit sich selbst, dann zieht sie sich zurück ins Musiktherapiezimmer. Dort steht ein Klavier, auf dem sie ein wenig spielt, sie hat sich das Klavierspielen selbst beigebracht. Oder sie schaut aus dem Fenster, spürt den Gedanken nach, die sie dann niederschreibt, um sie greifbarer zu machen. Was als Gegner erkennbar ist, ist besser zu beherrschen. „Ich schiebe die Option, dass es schiefgehen könnte, nicht mehr komplett weg. Ich weiß, dass es nicht alle schaffen und dass man an meiner Krankheit sterben kann“, sagt sie, „aber für mich ist der Tod keine Option! Ich weiß, dass es hart wird. Aber ich weiß auch, dass ich kämpfen kann, und ich habe Vertrauen in meinen Körper.“

Die Chemotherapie, die nötig war, um die Ausbreitung der Krebszellen einzudämmen, hat dieser Körper erstaunlich gut verkraftet. Sechs Tage lang erhielt Silja über jeweils acht Stunden die bewährte Kombination der Medikamente Mitoxantron, Etoposid und Cytarabin. Die Nebenwirkungen Übelkeit und Erbrechen, die im vergangenen Jahr bei jedem Chemozyklus zu schweren Komplikationen geführt hatten, hielten sich deutlich in Grenzen.

Erneute Leidenszeit

Dennoch weiß die Patientin, dass sie erst am Anfang einer erneuten Leidenszeit steht. Weil eine Chemotherapie im zweiten Stadium nicht mehr ausreicht, benötigt sie eine Knochenmarktransplantation. Das bedeutet: Fünf Wochen auf der Isolierstation, ohne Kontakt zur Außenwelt. Aktuell darf sie zwar auch die Station nicht verlassen, aber immerhin Besuch empfangen. Im Anschluss an die Transplantation warten mehrere Monate mit erhöhten Vorsichtsmaßnahmen, um jegliche Infektionsrisiken zu minimieren. Immerhin muss, um nicht das Abstoßen der körperfremden Stammzellen zu riskieren, das Immunsystem einmal komplett lahmgelegt werden.

„Ich weiß, dass mein normales Leben erneut für eine gewisse Zeit unterbrochen werden muss. Aber ich denke nicht an diese Phase, sondern an das, was danach kommt“, sagt Silja. Das Maschinenbaustudium an der TU Harburg, das sie am 2. Oktober aufnehmen wollte, beginnt nun eben ein Jahr später. „Das verändert doch nichts“, sagt Silja. Was ihr besonders hilft, ist die enorme Anteilnahme an ihrem Schicksal. Weil so schnell wie möglich ein Stammzellenspender gefunden werden muss, um die für Ende Oktober terminierte Transplantation zu ermöglichen, haben Hockeyvereine in ganz Deutschland zu Typisierungsaktionen aufgerufen. Sogar in den USA beteiligen sich Sportler. In Hamburg findet diese Typisierung an diesem Sonnabend bei ihrem Großflottbeker THGC statt (siehe Infokasten).

Eine große Familie

Am wichtigsten aber ist für Silja das Gefühl, das ihre Teamkolleginnen ihr vermitteln: wie eine große Familie zu sein, in der jeder für den anderen da ist. Schon im vergangenen Jahr hatte die Mannschaft einen Besuchskalender erstellt, im Februar organisierten zwei Spielerinnen einen Nachhol-Abiball, da Silja ihren im Sommer 2016 wegen der Krankheit verpasst hatte. Und auch jetzt sind jeden Tag mindestens zwei Spielerinnen am Bett ihrer Torhüterin, die als Stimmungskanone des Teams gilt. Sie haben einen Adventskalender gebastelt, die Säckchen hängen ringsherum um das Krankenbett, jeden Morgen gibt es eine Aufmunterung in Form von Sprüchen oder kleinen Geschenken. Wer das liebevoll dekorierte Zimmer sieht, kann Tränen der Rührung nicht zurückhalten.

Über den Messengerdienst Whats­App lassen die Kolleginnen Silja an allem teilhaben, was sie tun. „Mir hilft das sehr, weil ich mir auf diese Art vorstellen kann, wie schön es sein wird, wenn ich im nächsten Jahr wieder all das mitmachen werde“, sagt sie. Cheftrainer Michi Behrmann ist tief beeindruckt von der Einstellung seiner Torhüterin. „Es ist mir ein Rätsel, wie sie trotz dieses Schicksals einen solchen Lebensmut ausstrahlen und so positiv damit umgehen kann“, sagt er.

Größter Antrieb: Wieder im Hockeytor zu stehen

Kein Wunder also, dass Siljas größter Antrieb der ist, so bald wie möglich wieder zwischen den Pfosten zu stehen – oder wenigstens mit ihrem Team trainieren, es begleiten zu können. „Ich habe die Ärzte schon gefragt, wann ich wieder Hockey spielen kann, und die Antwort war, dass ich vier Monate nach der Transplantation wieder joggen darf“, sagt sie. Den Zusatz „wenn alles optimal verläuft“, den hat sie gestrichen, denn daran zweifelt sie nicht.

Es geht ihr auch nicht um sich selbst, sondern um die Gemeinschaft. Dass sie wegen der Krankheit im Mittelpunkt steht, behagt ihr nicht. Sie hat auch dieses Mal lang überlegt, im Abendblatt darüber zu sprechen. Der Antrieb, es erneut zu tun, war der gleiche wie beim ersten Mal: „Ich möchte mit meiner Geschichte helfen, anderen Menschen Mut zu machen, und den Fokus darauf lenken, wie wichtig es ist, dass niemand im Kampf gegen den Krebs verzweifeln muss.“

Manchmal, wenn sie in ihrem oder dem Musikzimmer aus dem Fenster schaut, übermannt sie ein Gefühl: Dankbarkeit. „Wenn ich unten die Menschen vorbeihasten sehe auf dem Weg zum nächsten Termin, dann tun die mir viel mehr leid als ich mir selbst“, sagt sie, „die können ihr Leben nicht genießen, weil sie nicht wissen, was es wirklich wert ist zu leben.“ Silja Paul weiß es, und sie weiß vor allem, wie sehr es sich lohnt, darum zu kämpfen.