Zurow. Abendblatt-Serie „Meine gute Nachricht des Jahres“– Teil 4: In Zurow können die Kinder jetzt auf den Schulbus verzichten.
In der letzten Stunde vor dem Mittagessen wird gemalt. Lehrer Michiel Roelofs hält ein Blatt vor die Klasse und erklärt, dass Gelb eine warme Farbe ist und Blau eine kalte. Vor ihm sitzen elf Jungen und Mädchen an kleinen Tischen, die im Rechteck angeordnet sind. Die gemeinsame Klasse 1 und 2 der Dorfschule Wismarer Land hat einen großen, weiß gestrichenen Klassenraum. Drei Tafeln gibt es und Kinderzeichnungen mit bunten Tieren an der Wand. Die zweite Lehrerin, Nadine Kahmann (35), verteilt Pinsel, schraubt Wassergläser auf und legt einem etwas zappeligen Jungen, der nicht aufpasst, den Arm auf die Schulter.
Zwei Lehrer für elf Kinder – ist das nicht der Traum eines jeden Pädagogen? Roelofs, aus den Niederlanden stammender Waldorf-Pädagoge, hört nicht auf zu lächeln. „Der Luxus hält sich in Grenzen“, antwortet der 51-Jährige, der gut in einen Werbeclip für besonders idyllische Bio-Landwirtschaft passen würde. Im Gegenteil, eine kleine Klasse mache sogar mehr Arbeit als eine größere. „Das sind alles kleine Könige“, meint Roelofs. Es wäre viel leichter, 20 oder 22 Kinder zu unterrichten. Das habe er in den vielen Jahren, in denen er schon als Lehrer arbeite, gelernt.
Dorfschule war nicht geplant
Dass es in Zurow gegenüber der Kirche wieder eine Dorfschule gibt, war nicht geplant. Die 1300 Einwohner der Mecklenburger Gemeinde in der Nähe von Wismar hatten sich abgefunden mit der Schließung der verbundenen Haupt- und Realschule mit Grundschule vor ein paar Jahren. In der alten Schule ist nun eine Kita. Und es gibt noch den Kinderbauernhof mit freier Kindertagesstätte, die sich an der Waldorf-Pädagogik orientiert.
Acht Jahre ist es her, dass sich bei den Kinderbauernhof-Eltern erstmals die Idee regte, eine eigene Schule zu gründen, erzählt Martin Kunz (38), Lehrer, Direktor und Vater eines Schülers der im September eröffneten neuen Dorfschule. Die ersten acht Klassen sollten hier unterrichtet werden, mit viel Nähe zur Natur und einem befreundeten Öko-Bauernhof als festem Unterrichtsort. Vor zwei Jahren wurde es ernst: Eine Gruppe aus zehn Eltern nahm die Sache in die Hand. Niemals hätten sie gedacht, dass es so schwierig werden könnte.
Kunz kennt sich aus im Bildungsbetrieb von Mecklenburg-Vorpommern. Der Rostocker unterrichtete nach seinem Lehramtsstudium an einem Gymnasium, später ging er zur Schweriner Waldorf-Schule. Was er in den vergangenen Monaten als Schulgründer erlebte, hätte er vorher nicht für möglich gehalten. Mit bürokratischen Tricks hätten die Behörden versucht, das Projekt scheitern zu lassen. „Das Schweriner Bildungsministerium will keine Waldorf-Schulen“, ist sich Kunz sicher. Er klingt enttäuscht. Familien, die sich für ein Leben auf dem Land entscheiden und dort etwas bewegen wollten, werde es schwer gemacht – obwohl viele Dörfer vom Aussterben bedroht sind.
Architekt aus dem Eltern-Team übernahm die Planung
Ein Architekt aus dem Eltern-Team übernahm die Planung für den Umbau des leerstehenden Wohn- und Geschäftsgebäudes, das die Gründer gepachtet haben. Mit viel Einsatz schafften sie die Baugenehmigung in Rekordzeit. Auch die Finanzierung klappte zügig. Die Eltern gründeten eine Genossenschaft, zahlten Anteile ein. Eine gemeinnützige Bank stellte einen Kredit bereit, Förderer steuerten ebenfalls Darlehen bei. Genug für 40.000 Euro für den ersten Bauabschnitt und genug, um eine Grundlage zu schaffen für die ersten drei Jahre, in denen das Land keine Personalkosten-Zuschüsse zahlt. Jedes Wochenende arbeiteten die Gründer auf der Baustelle. Alles schien auf dem richtigen Weg.
Bis zu jenem Tag im April. Schriftlich lehnte das Kultusministerium den Antrag auf Gründung einer freien Waldorf-Schule mit den Klassen 1-8 in Zurow ab. „Absurd“ sei die Begründung gewesen, sagt Martin Kunz. Das bauliche Konzept hätte nicht gereicht, trotz Baugenehmigung durch den Landkreis, der Haushaltsplan überzeugte nicht, und mit der ehrenamtlichen Arbeit sei das alles nicht mehr rechtzeitig zu schaffen. Immer wieder habe das Ministerium neue Unterlagen und Nachweise angefordert. „Es gibt dort zu viele Schreibtische“, vermutet Anja Polzer, Mutter eines Schülers und Mitglied des Gründungsteams.
Das Schulgeld beträgt 130 Euro pro Monat
Nur noch fünf Monate blieben bis zur geplanten Eröffnung. Statt aufzugeben, kämpften die Eltern weiter, legten Widerspruch ein, reichten wieder unzählige Dokumente und Stellungnahmen nach. Währenddessen lief der Umbau weiter, einem ungewissen Ziel entgegen. Im Juli, die Sommerferien hatten schon begonnen, kam endlich die große Erleichterung: Schwerin genehmigte die Schule.
Für die nächste Doppelklasse, die im September 2017 eingeschult wird und deren Klassenraum zurzeit noch eine wüste Baustelle ist, gibt es bereits mehr Anmeldungen als Plätze. 80 Schüler sollen es eines Tages insgesamt sein, das Schulgeld beträgt 130 Euro monatlich. Alle Eltern seien willkommen, sagt Direktor Kunz, auch wenn sie das Schulgeld nicht aufbrächten. Dafür gebe es Mittel und Wege. Nach der Klasse 8 können die Schüler zur Schweriner Waldorf-Schule, die bis zum Abitur führt, oder an eine andere Schule wechseln. Das Verhältnis zu den anderen Dorfbewohnern sei gut. „Anfangs wurden wir ein bisschen beäugt“, sagt Mitgründer Jan Dobbelmann, Holzgestalter und Vater eines achtjährigen Jungen. Das habe sich gelegt. Nun seien alle froh, dass es wieder eine Schule im Dorf gibt.
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