Es geht um Wörter, die sich nicht entscheiden können, ob sie stark, schwach oder gemischt gebeugt werden wollen

Wenn in einer Abonnenten-Werbeanzeige zu lesen steht, das Blatt sei „mit norddeutschem Herz“ geschrieben, so muss ich unwillkürlich an die Eppendorfer Kardiologie denken. Allerdings ist nicht anzunehmen, dass dort allen Mitgliedern der betreffenden Redaktion ein Herz aus Norddeutschland implantiert worden ist, zumal Organspender in der Regel anonym bleiben. Es ist auch nicht wahrscheinlich, dass die hamburgische Abstammung oder die schleswig-holsteinische Stammverwandtschaft eine derart übersteigerte Bedeutung erlangt hat, dass in der Geburtsurkunde nicht nur die Herkunft des Säuglings als Ganzes, sondern auch die seiner Einzelteile aufgelistet worden ist.

Nein, ich unterstelle einmal, dass hier so etwas Ähnliches wie „Herzblut“ gemeint sein sollte, nämlich die Liebe zur Heimat im Norden mit allen regionalen Besonderheiten wie grünen Heringen, Birnen, Bohnen, Speck und den kargen Grüßen „Moin“ und „Tschüs“. Eine solche Liebe wirkt aber nur mit korrekter Grammatik. Falls das Herz in übertragener Bedeutung angesprochen wird, muss es wie in unserem Beispiel allerdings „mit norddeutschem Herzen“ heißen.

Das Substantiv Herz flektiert unregelmäßig, unterliegt quasi einer morphologischen Arrhythmie. Obwohl es in der schwachen Deklination eigentlich gar keine Substantive im Neutrum geben sollte, finden wir im Singular Genitiv und Dativ vermischte oder schwache Endungen: des Herzens, dem Herzen, im Akkusativ stark: das Herz, im Plural durchgehend schwach: die/der/den/die Herzen. Wenn Ihr Herz (Nominativ) überläuft, brauchen Sie Ihrem Herzen (Dativ) nicht erst einen Stoß zu geben, um Ihr Herz (Akkusativ) auszuschütten.

In der Medizin besteht jedoch die Tendenz, das setzen wir jedenfalls vor­aus, Ihnen ein starkes Herz zu verpassen, und das so gründlich, dass die Grammatik gleich mit therapiert wird. In diesem Bereich wird im Dativ Singular häufig statt der schwachen Form (dem Herzen) die starke Flexion gewählt (dem Herz). Sie hat es mit dem Herz zu tun (sie ist herzkrank); er hat es am Herz. In medizinischen Texten finden wir sogar noch den sterilen starken Genitiv des Herzes. Der ist jedoch veraltet und könnte von Sauerbruch oder Robert Koch stammen. Wer diese Form in seiner Dissertation verwenden will, dem sei dringend zu einer Fußnote mit Quellenangabe geraten.

Axel Springer gab dem Abendblatt 1948 das noch heute im Titelkopf zu findende Motto „Mit der Heimat im Herzen die Welt umfassen“ mit auf den Weg. Schon die Flexionsform weist darauf hin, dass hier kein menschliches Organ, sondern eine menschliche Berichterstattung gemeint war, in der der Mensch, die Familie und die Belange des Nachbarn im Mittelpunkt standen und stehen. Oder geht es gar um die Belange des Nachbars? Auch an dieser Stelle droht das im Innern aufgebaute Gefühl der Mitmenschlichkeit, das wir gerade in die Tasten fließen lassen wollten, durch eine banale grammatische Frage gehemmt zu werden, die sich leicht zu einer Streitfrage auswachsen kann. Der Streit um den neuen Maschendrahtzaun an der Grundstücksgrenze tritt im Vergleich dazu in den Hintergrund.

Mit dem Substantiv Nachbar haben wir einen weiteren Zwitter entdeckt, der sich nicht entscheiden kann, ob er sich stark oder schwach präsentieren soll. Handelt es sich um einen Nachbarn oder um einen Nachbar? Stört uns der Rasenmäher des Nachbarn oder des Nachbars? Da ein Nachbarschaftsstreit nicht selten ewige Feindschaft hervorruft, hat man den grammatischen Teil einer solchen Auseinandersetzung salomonisch gelöst – beide Deklinationen sind richtig, sowohl die starke (des Nachbars, dem Nachbar, den Nachbar) als auch die schwache (des Nachbarn, dem Nachbarn, den Nachbarn).

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