Bei der Tempusform der Vergangenheit gibt es einen Bedeutungsunterschied, ob wir das Perfekt oder das Präteritum im Satz benutzen.

    Ein Leser hat geschrieben und mitgeteilt, dass er einen Asylbewerber in Deutsch unterrichte. Das ist lobenswert, wenn mich auch die Mengenangabe „eins“ ein wenig stutzig macht. Wenn jeder der Migranten, und laut Bundesinnenminister sind es allein seit September mehr als eine Million, seinen eigenen Deutschlehrer bekommt, dürfte die ehrenamtliche Kapazität auf diesem Gebiet bald erschöpft sein. Allerdings scheint es sich um einen besonders begabten Schüler zu handeln, denn unser Leser fragt, welche Form des Präteritums (der Vergangenheit) er ihm vermitteln solle, und bittet um eine entsprechende Folge der „Deutschstunde“ als Lehrmaterial.

    Natürlich bin ich gern bereit, meinen bescheidenen Beitrag zur Integration zu leisten, und ich verdränge schnell den unziemlichen Gedanken, dass einem Asylbewerber statt mit den Feinheiten der sprachwissenschaftlichen Tempora (Zeiten) mit ein paar praxisnahen deutschen Ausdrücken und Sätzen mehr geholfen wäre, damit er sich einen Fahrschein besorgen kann und im Kaufhaus die Toiletten nicht verwechselt. Doch je mehr ich darüber nachdenke, desto deutlicher wird, dass ich als Muttersprachler seit fast 75 Jahren (gut, seit 73 Jahren, ziehen wir die Säuglingsjahre ab) die Zeitformen der Vergangenheit rein intuitiv benutze. Heißt es „Mehmet hat Deutsch gelernt“ oder „Mehmet lernte Deutsch“?

    Als Erstes müssen wir einige Begriffe klären. Das Präteritum ist die Zeitform der Vergangenheit aus lat. tempus praeteritum (vergangene Zeit). Früher war das Präteritum der Oberbegriff für alle Zeitformen der Vergangenheit (Perfekt, Imperfekt, Plusquamperfekt), heute benutzen die Sprachbücher den Fachbegriff „Präteritum“ ausschließlich für das Imperfekt (die Vergangenheit). Um unsere Enkel nicht bei der Schularbeitenhilfe zu verwirren, wollen wir dabei bleiben. Das Präteritum ist eine Tempusform des Verbs, die ausdrückt, dass das Geschehen vom Standpunkt des Sprechers keinen direkten Bezug zur Sprechzeit hat. Es vermittelt Distanz und versetzt den Leser oder Hörer in die Vergangenheit. Das Präteritum ist das Haupttempus in allen schriftlichen Erzählungen und Berichten, die von einem erdachten oder wirklichen Geschehen handeln: Old Shatterhand ergriff Winnetous Hand und sah dem Häuptling tief in die Augen. Allerdings wird das Präteritum immer mehr zu einem Tempus der geschriebenen Sprache. Südlich der Linie Trier–Frankfurt–Plauen ist es laut Dudenredaktion in der Umgangssprache bereits ausgestorben. In diesen Gebieten muss der Sprecher auf das Perfekt als Vergangenheitsform ausweichen. Da sich bayerische, um nicht zu sagen welsche Unarten der Sprache auch nach Norden, wo man bekanntlich das bessere Hochdeutsch spricht, durchzufressen pflegen, sind wir auch in Hamburg von dieser Entwicklung betroffen.

    Das Perfekt aus lat. perfectum tempus (vollendete Zeit) heißt auf Deutsch Vorgegenwart, vollendete Gegenwart oder Präsensperfekt und ist die Zeitform, mit der ein verbales Geschehen oder Sein aus der Sicht des Sprechenden als vollendet charakterisiert wird. „Papa singt“ ist Gegenwart, wir hören es, unsere Ohren schmerzen, bei „Papa hat gesungen“ ist der Gesang glücklicherweise vollendet und vorbei.

    Dennoch besteht bei den Tempora ein Bedeutungsunterschied. Während das Präteritum in der Vergangenheit eingekapselt ist wie Karl May im Wilden Westen, vermittelt das Perfekt häufig einen Bezug zur Gegenwart. Der vom Partizip II bezeichnete Zustand dauert fort oder bleibt von Bedeutung. Mutter schaut morgens aus dem Fenster: „Es hat geschneit“, ruft sie und sieht die weiße Pracht. Vater muss Schnee schippen. Sagt sie aber: „Heute Nacht schneite es“, so ist bereits alles weggetaut und die Angelegenheit erledigt. Vater kann in Ruhe sein Abendblatt zu Ende lesen. Missverständlich wegen des Tempus ist folgende Anzeige: „Ich eröffnete gestern mein neues Geschäft in der Hauptstraße.“ Hier wird allerdings kein völlig in der Vergangenheit liegendes Geschehen mitgeteilt, sondern ein Ereignis, das weiterhin von Wichtigkeit ist. Daher: „Ich habe gestern mein neues Geschäft in der Hauptstraße eröffnet.“

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