Schriften kommen und gehen wie der Frühling. Wie Geheimwissen im Alltag und in der Liebe helfen kann.

Zurzeit erfasst die Digitalisierung mit ihrer radikalen Kraft die Schreibschrift in der Schule und geht mit der Abrissbirne gegen sie vor. Kinder sollen keine Schreibschrift mehr lernen, sie sollen auch schreiben wie gedruckt. Jetzt, da es Frühling wird, erwachen bei mir mit frühlingshaften Gefühlen die Erinnerungen an meine erste Schul-Schreibschrift. Sie hieß Sütterlin und wurde 1911 vom preußischen Kulturminister zur Schreibvereinfachung mit Feder und Tinte als Schulschrift eingeführt statt der sogenannten lateinischen Schrift. In meinem Schulbuch, das damals noch unbedingt „Fibel“ hieß, las ich und schrieb ich auf Sütterlin: „So, so sause Suse los.“

Da kamen zwei verschiedene S vor, ein langbeiniges, das wie ein Spinnenbein aussah und zwei Fliegenbeine als Zacken oben und unten hatte, dann das Schluss-S, das sich wie ein Schweineschwänzchen ringelte, in Schwaben auch „Ringeles-S“ genannt. Es fehlt das Eszett, das aus einem langen Bein und einem angehängten Dreier bestand: ß. 1939, als ich in Wien im Heim-ins-Reich-geholten Österreich als Erstklässler auf der Schiefertafel schrieb, war Sütterlin nicht nur eine deutsche, sondern eine großdeutsche Schrift.

Doch jetzt zum Frühling. Bei den zurzeit hohen Temperaturschwankungen bin ich froh, dass ich Sütterlin gelernt habe. Wenn ich nämlich in der Nacht plötzlich friere oder mir plötzlich warm wird, stürze ich zu meinem Heizkörper und drehe, ohne Licht anmachen zu müssen, entweder zu oder auf. Auf wie das Sütterlin-A und zu wie das Sütterlin-Z, also einen linken Halbmond und eine rechte Drei. Konkav und konvex. Eine praktische Eselsbrücke heißt: „Ist das Mädchen brav, so ist der Bauch konkav / Hatte sie jedoch Sex, so wird der Bauch konvex.“ Ich kann also dank Sütterlin schlafwandlerisch sicher Warm auf Kalt drehen und umgekehrt, je nachdem. Schulbildung hilft.

Später kam mir das Wissen im „Spiegel“ zugute. Herausgeber Rudolf Augstein machte an die Manuskripte der Redakteure seine Anmerkungen in Sütterlin, und jüngere Kollegen kamen zu mir und ließen sie sich entschlüsseln. Herrschaftswissen! „Was heißt das?“, fragte ein Kollege. Ich antwortete: „Das heißt ‚Quatsch‘.“

In der Pubertät war mir, zwischen Fibel und „Spiegel“, zum Frühling die Liebe eingefallen, das Zu-zweit-Seufzen im Mondenschein. Als Sütterlin-Versteher konnte ich sofort erklären, ob der Mond abnimmt oder zunimmt, A und Z. Und ich rezitierte zum Angeben vor der mondbeschienenen Schönen das Gedicht des großen Sprachtraumtänzers Christian Morgenstern:

Mond-Gedicht
Mond-Gedicht © HA

Dem wäre nichts hinzuzufügen, wenn inzwischen nicht die Amis auf dem Mond gelandet wären.