Nun trinken wir brav unseren Kamillentee. Dabei sollen nicht wir, sondern der Patient allein soll trinken.

Ein Kollege, ein ausgewiesener Wirtschaftsfachmann, kommentierte vor einigen Tagen im Abendblatt, die Fernostverkehre mit immer größeren Schiffen auf der Elbe seien lebenswichtig für den Hamburger Hafen. Deshalb müsse die Fahrrinne nach Cuxhaven vertieft werden. Nun geht es in dieser Kolumne um die Sprache und nicht um die Frage, ob Olaf Scholz den Grünen die angemahnte Zukunftsfähigkeit des Hafens wird opfern müssen. Sprachlich fiel der ungewöhnliche Plural die Verkehre auf. Dabei handelt es sich um eine Form aus der Fachsprache. Reeder, Kaufleute und Spediteure verstanden den Kommentar auf Anhieb, aber einige Leser, die die Elbe eher von einem Ausflug nach Neumühlen oder Blankenese kennen, fragten nach, ob der Verkehr pluralfähig sei. Schließlich handele es sich um ein Singularetantum (lat. tantum – nur), um ein Substantiv, das nur im Singular vorkomme wie auch Armut, Durst, Hunger, Ruhe, Schutz, Überfluss oder Wehmut.

Allerdings werden viele Substantive, die in der Allgemeinsprache nur im Singular gebraucht werden, in den Fachsprachen auch in den Plural gesetzt. Es entstehen Plurale, die in dem Bestreben gebildet werden, einen bestimmten Sachverhalt kurz und ohne umständliche Umschreibung auszudrücken. Dazu gehören häufig Plurale von Abstrakta und Stoffen: die Betone, Blute, Elektrizitäten, Gersten, Hirsen, Milchen, Verbräuche, Bedarfe, Zuwächse und eben Verkehre.

Neben solchen Singulariatantum gibt es Wörter, die eigentlich nur im Plural vorkommen, also Pluraliatantum sind, aber in der Fach- bzw. Behördensprache in den Singular gezwungen werden, etwa das Elter (ein Elternteil) oder das Geschwister. Derartige Vergewaltigungen der Flexion gelten als nicht standardsprachlich, sind in einigen Amtsstuben jedoch nicht auszurotten. Eine größere Freiheit auf diesem Gebiet besitzen unsere Dichter, und zwar die sogenannte dichterische Freiheit, wenn wir von Dürsten, Schilfen oder Zukünften lesen. Ab und zu fordert das Versmaß eine zusätzliche Silbe, aber gelegentlich reicht, nachdem alle Superlative verbraucht sind, ein simpler Singular nicht mehr aus, sodass unser Dichter nicht vom banalen Durst, sondern von esoterischen Dürsten geplagt wird. Da wir es hierbei nicht mit der Grammatik, sondern mit der Literatur zu tun haben, steht einem Banausen wie mir keine Kritik zu.

Man kann nicht nur Substantive in den Plural setzen, sondern auch sich selbst. Das hörten wir von Kaiser Wilhelm und den vielen Landes- und Duodezfürsten: Wir, Wilhelm, von Gottes Gnaden deutscher Kaiser … Hier stoßen wir auf den Plural der Majestät, auf den Pluralis Majestatis. Ich bitte allerdings nicht misszuverstehen, dass ich in den Sätzen zuvor häufig „wir“ statt „ich“ gebraucht habe. Dabei handelte es sich nicht etwa um die Sehnsucht nach der Monarchie, sondern im Gegenteil um den Plural der Bescheidenheit mit dem Fachbegriff Pluralis Modestiae – im Hinblick auf Schriftsteller und Journalisten auch Autorenplural genannt: Nun kommen wir (ich und Sie, die Leser) zu einer Frage, die uns etwas genauer beschäftigen sollte. Und dann gibt es noch das herablassende Krankenschwester-Wir, wobei der oder die Sprechende in grob vertraulicher Weise ein Abhängigkeitsverhältnis ausnutzt, das der Angesprochene jedoch häufig als ein Verhältnis der Hilfslosigkeit empfindet: Nun trinken wir ganz brav unseren Kamillentee, nicht wahr, Opa Schulze?

Die Höflichkeitsanrede Sie steht, selbst wenn ich eine Einzelperson anschreibe, stets im Plural (der 3. Person): Haben Sie, sehr geehrte Frau Müller, meine Kolumne gelesen? Dieses Sie wird immer und überall großgeschrieben! Die Großschreibung gilt dabei, was meistens übersehen wird, auch für das entsprechende Possessivpronomen Ihr: Grüßen Sie Ihre Frau. Das rückbezügliche Pronomen sich bleibt hingegen klein: Bei diesen Zahlen müssen Sie sich geirrt haben.

Das Sie schreibt man groß, also auch das Du? Nein! Die vertrauliche Anrede du und ihr sowie die Possessivpronomen dein und euer werden im Allgemeinen kleingeschrieben, vor allem in der wörtlichen Rede. Lediglich in Briefen kann auch großgeschrieben werden, muss aber nicht und sollte auch nicht, um eine eindeutige Regel nicht mit einer einzigen Ausnahme zu belasten.