Um eines klarzustellen: Zu Weihnachten feiern wir nicht den Besuch der Schwiegermutter, sondern die Geburt des Herrn

Wenn Ihnen in diesen Tagen der NDR in der Fußgängerzone ein Mikrofon unter die Nase hält und eine Schulterkamera auf Sie gerichtet ist, dann antworten Sie auf die Frage der Reporterin nach dem ursprünglichen Sinn des bevorstehenden Weihnachtsfestes bitte nicht: „Weihnachten ist, wenn meine Schwiegermutter kommt“, murmeln Sie nichts vom „Konsumterror“, denken Sie einen Augenblick lang weniger an die ausverkauften Lego-Steine oder die in Polen lebend gerupften Gänse, sondern überziehen Sie Ihr Antlitz mit einem Hauch christlicher Innerlichkeit. Es könnte schließlich sein, dass Sie in einem Magazin wie „Brisant“ oder gar in den „Tagesthemen“ auftauchen werden.

Legen Sie also die gesamte abendländische Tradition in Ihre Stimme und antworten: Zu Weihnachten feiern wir die Geburt Jesu Christi, unseres Herrn.

Es mag sein, dass die Reporterin beim Weihnachtsfest noch ein oder zwei richtige Antworten bekommen wird, weil sich mancher an die Krippe mit dem frisch geborenen Knaben im Bethlehemer Stall erinnert, während eine entsprechende Frage vor Ostern weitaus weniger Treffer hervorrufen wird. Das höchste kirchliche Fest ist nicht Weihnachten, sondern Ostern, das den Kern des christlichen Glaubens enthält: die Kreuzigung Jesu und seine Wiederauferstehung von den Toten. Die Heilige Nacht ist nur wenige Stunden entfernt, doch der Ostersonntag wird diesmal erst am 5. April erreicht sein – und doch haben beide Daten einen Bezug zueinander.

Wann in einem Jahr Ostern ist, das auf 35 verschiedene Termine zwischen dem 22. März und dem 25. April fallen kann, erfahren wir heutzutage aus der Zeitung, aus dem Fernsehprogramm oder aus dem Reklamekalender unserer Apotheke. Im frühen Mittelalter konnten aber nur zwei oder drei Experten in Rom oder Alexandria diese komplizierte Berechnung vornehmen. Das schaffte nicht einmal der Papst. Der bat den Mönch Dionysius Exiguus im 241. Jahr nach dem Regierungsantritt des Kaisers Diokletian (so zählte man damals), die Osterdaten der kommenden Jahre zu berechnen. Das tat Dionysius, aber es widerstrebte ihm, die Jahre nach dem bis dahin größten Christenhasser Diokletian zu bemessen. Also schuf er eine welthistorische Neuigkeit, auf die bis dahin niemand gekommen war: Er bezeichnete die Jahre als anni Domini nostri Jesu Christi, als Jahre seit der Geburt des Herrn. Er zählte zurück (verzählte sich wahrscheinlich dabei) und setzte den Geburtstag Jesu auf den 25. Dezember vor das Jahr 1. So wurde aus dem Jahr 241 nach Diokletian das Jahr 525 anno Domini – nach Christi Geburt (n. Chr.).

Historiker werden jetzt einwenden, dass Jesus von Nazareth unmöglich im Dezember geboren worden sein kann. Doch darauf kommt es nicht an. Die Missionierung der Germanen erfolgte im frühen Mittelalter nicht durch Bibelstunden und Gospelchöre, sondern mit dem Schwert, wie wir es heute an anderer Stelle immer noch erleben. Die Akzeptanz des oktroyierten Glaubens wurde erhöht, wenn sich die christlichen Feste an die heidnischen Bräuche anlehnten, im Hinblick auf das Fest der Geburt Jesu an die Rituale der Wintersonnenwende.

In jenen heiligen Mittwinternächten (mhd. ze wīhen nahten; germ. wiha – heilig) vermischten sich Mythen, Glaube und Aberglaube. Aus mhd. wīhennahten entstand das Wort Weihnachten, meist ohne Artikel und im Plural gebraucht („Fröhliche Weihnachten“). Im Englischen bezieht sich der Name des Festes auf die Messe, die an diesem Tag gehalten wird: christmas. Viele Sprachen nehmen Bezug auf die Tatsache, dass Jesus an jenem Tag geboren wurde (lat. dies natalis), und verwenden das Wort für die Geburt: frz. noël, ital. natale, span. navidad oder port. natal.

Ohne unseren Nachbarn im Norden allzu nahe treten zu wollen, kann man sagen: je nördlicher, desto heidnischer. Das gilt zwischen Schweden und Island nicht nur für die Bräuche, sondern auch für den Namen des Festes: jul oder jól. Ganz aus dem Rahmen fällt Hindi, die wichtigste Sprache in Indien. Dort heißt Weihnachten bada din, und das bedeutet so viel wie „großer Tag“.

Mögen auch für Sie, liebe Leserinnen und Leser, die kommenden Tage große Tage werden!

Der Verfasser, 73, ist „Wortschatz“-Autor und früherer Chef vom Dienst des Abendblatts. Seine Sprach-Kolumne erscheint dienstags