Akronyme und andere Kurzwörter sind keine Abkürzungen, sondern neue Formen aus vorhandenem Material. Ohne sie kämen wir nicht aus

Es gibt Wörter, die wir täglich gebrauchen und die trotzdem keine Wörter im konservativen Sinne sind. Ihnen fehlt der Stammbaum, der sie etymologisch (worthistorisch) adeln würde. Sie lassen sich auf keine indogermanische Wurzel zurückführen, sie haben nicht mit den Goten um Rom gekämpft, ja, sie sind noch nicht einmal in der Kammer der Wartburg entstanden, in der Luther das Tintenfass nach dem Teufel warf und in der der Tintenfleck an der Wand für die Touristen immer wieder einmal erneuert werden muss. Nehmen wir das Wort Aids, dessen Geburt wir in wissenschaftlichen Fachzeitschriften meist angelsächsischer Herkunft suchen müssen. Dort wurde eine Erkrankung beschrieben, die zu schweren Störungen im Abwehrsystem des Körpers führt und die engl. Acquired immune deficiency syndrome genannt wurde, zu Deutsch etwa „erworbener Mangel an Abwehrkraft“.

Selbst im allerersten Artikel darüber dürfte es zu mühselig und platzraubend gewesen sein, die Krankheit in jedem Satz immer mit vier Wörtern zu bezeichnen. Also bildete man das Kurzwort Aids, das aus den Anfangsbuchstaben der vier Langwörter zusammengesetzt ist. Da hier die Anfangsbuchstaben verschiedener Wörter zu einem neuen Wort vereint werden, sprechen wir auch von einen Initialwort (initial – „am Anfang stehend“), während verstaubte Germanisten, die Jacob Grimm als Gipskopf auf dem Schreibtisch stehen haben, abfällig die Bezeichnung Quasiwort gebrauchen. Es ist immer noch am besten, wir holen uns den Fachbegriff aus dem Griechischen, und dann lautet er Akronym von ákros (Spitze) und ónyma (Name).

Ohne Akronyme könnten wir über bestimmte Themen nicht reden und schreiben, ohne die eigene und die Geduld des Hörers überzustrapazieren. Wir sagen Laser und nicht Light amplification by stimulated emission of radiation, oder wir sprechen vom Radar statt von der Radio detecting and ranging. Auch in der Nachrichten- und Zeitungssprache benötigten wir ohne Akronyme zwei Seiten mehr am Tag. Sie lesen kurz und doch treffend Nato (North Atlantic Treaty Organization) oder Nasa (National Aeronautics and Space Administration) bzw. Opec (Organization of the Petroleum Exporting Countries).

Es gibt Sonderformen der Akronyme. Ein Buchstabenwort setzt sich aus beliebigen Einzelbuchstaben der Wörter zusammen, zum Beispiel DAX für den Deutschen Aktienindex. Ergibt ein Akronym ein bereits existierendes Wort, so handelt es sich um ein Apronym. Der Bezug ist oft gewollt und enthält nicht selten einen süffisanten Hintergedanken: Die ELSTER, die „ELektronische STeuer-ERklärung“, spielt angeblich auf die Elster an, auf den diebischen Rabenvogel, der die Menschen ebenso bestiehlt wie das Finanzamt. Es sei dahingestellt, ob diese Deutung von den Finanzministern oder vom Steuerzahlerbund stammt, auf jeden Fall lässt sich das Kurzwort so gut merken.

Und dann haben wir da noch die sogenannten Backronyme, die scheinbaren Rückwärts-Kurzwörter, wobei „rückwärts“ nicht „von hinten“ bedeutet, sondern „nachträglich“. Nachträglich wird bekannten Ausdrücken ein von Lebenserfahrung oder Lebensenttäuschung triefendes Akronym übergestülpt, etwa Ehe für Errare humanum est („Irren ist menschlich“) oder Team für „Toll, ein anderer macht’s“.

Kurzwörter sind keine Abkürzungen. Bei Abkürzungen handelt es sich um Kürzungen aus vorhandenen Wörtern oder Wortgruppen (z. B., „zum Beispiel“, Nr. für „Nummer“ oder S. für „Seite“), während Kurzwörter wie Akronyme neu entstehen. Sie werden schnell in die Struktur der deutschen Grammatik integriert. Während Aids bisher weder einen Plural noch einen Artikel, aber bereits Komposita (Aidsberatung, Aidshilfe) besitzt, müssen wir bei anderen Akronymen zumindest den Numerus beachten: Die Nato tagt; die Uno mahnt (Singular, die Organisation), aber: die USA sind betroffen, die UN verlangen (Plural, die Nationen).

Kurzwörter werden im Wortinneren ausschließlich mit Kleinbuchstaben geschrieben (Aids, Azubi, Akku, Kripo, Fifa, Uefa, Unesco). Großbuchstaben sind nur zulässig, wenn die Abkürzung nicht als Silbe oder Silben, sondern in Einzelbuchstaben gesprochen wird: A-D-A-C oder B-U-N-D.

Der Verfasser, 73, ist „Hamburgisch“-Autor und früherer Chef vom Dienst des Abendblatts. Seine Sprach-Kolumne erscheint dienstags