Nur knapp 45.000 Unterschriften – das war am Ende sogar überraschend eindeutig. Wer nach den Ursachen für das Scheitern des Volksbegehrens sucht, dem fällt zunächst ein eklatanter Widerspruch auf.

Plötzlich sickerte durch, dass es knapp werden könnte, sehr knapp. Als die Abgeordneten der Bürgerschaft am Mittwochnachmittag zuerst über das Schicksal der Elbvertiefung debattierten und sich später durch die Tagesordnung arbeiteten, drangen erste Gerüchte aus dem Kampagnenbüro der Volksinitiative „G9-Jetzt-HH“ ins Hohe Haus. Die Aktivisten der Schulzeitverlängerung am Gymnasium zählten gerade die Unterschriften ihres Volksbegehrens aus. Dabei wurde zunehmend deutlicher, dass das Erreichen der Zielmarke 63.000, anders als manche geunkt hatten, keinesfalls ein Selbstgänger werden würde.

Viele Abgeordnete waren von den vagen Informationen elektrisiert, schließlich lehnen alle fünf Fraktionen die Rückkehr zum Abitur nach neun Jahren am Gymnasium ab. SPD-Bürgerschaftsfraktionschef Andreas Dressel erkundigte sich schon einmal beim fraktionslosen Abgeordneten Walter Scheuerl nach dem Stand der Dinge. Der Sprecher des Elternnetzwerks „Wir wollen lernen“ (WWL) verfügt über beste Kontakte, schließlich unterstützte er die G9-Volksinitiative, deren Protagonisten zudem teilweise auch bei WWL engagiert sind. Doch Scheuerl konnte oder wollte nichts sagen.

Und so dauerte es bis zum Donnerstagmorgen, bis klar war, dass es doch nicht gereicht hatte: Nur knapp 45.000 Unterschriften – das war am Ende sogar überraschend eindeutig. „Wir haben es nicht geschafft. Aber 45.000 Unterschriften sind für uns ein Erfolg“, gab G9-Sprecherin Mareile Kirsch als Losung aus. Schulsenator Ties Rabe (SPD) wird in diesem Moment mindestens ein Stein vom Herzen gefallen sein. Rabe, einer der schärfsten Kritiker der Rückkehr zu G9, war für Kirsch gewissermaßen das rote Tuch schlechthin. Ihm und seiner Behörde warf die streitbare Journalistin ein ums andere Mal vor, die Initiative behindert zu haben.

Rabe war fernab des Geschehens: Er saß bei einem Treffen der Kultusministerkonferenz mit Migrantenverbänden in der Essener Zeche Zollverein, als ihn die Nachricht vom Scheitern der Initiative per SMS erreichte. Da offensichtlich auch andere Minister ihre Büros gebeten hatten, sie sofort über den Ausgang des Volksbegehrens in Hamburg zu informieren, summten die Smartphones im Minutentakt. Und nacheinander gingen die Daumen in Richtung Rabe hoch. Offensichtlich wurde das Aus der Initiative in der Runde mit Erleichterung zur Kenntnis genommen. „Ich bin froh, dass Hamburgs Kindern eine solche Gewaltreform erspart bleibt“, ließ sich Rabe kurz darauf zitieren. Nur kein Triumphgeheul!

Wer nach den Ursachen für das Scheitern des Volksbegehrens sucht, dem fällt zunächst ein eklatanter Widerspruch auf: In Umfragen haben sich die Hamburger zu zwei Dritteln und mehr für G9 am Gymnasium ausgesprochen. An einer mangelnden Aufgeschlossenheit der Wahlberechtigten kann es also nicht gelegen haben. Einmal mehr lautet eine Lehre aus der Kampagne einer Volksinitiative: Du brauchst Masse! Entweder man hat eine große Zahl freiwilliger Helfer, die Tag für Tag mit Unterschriftenlisten über Straßen und Märkte ziehen – die „G9-Jetzt-HH“-Gruppe umfasst nach eigenem Bekunden gerade einmal 50, zumeist auch noch berufstätige Aktivisten. Das ist eindeutig zu wenig.

Oder eine Initiative verfügt über viel Geld in Form von Spenden für aufwendige Kampagnen und die Anheuerung professioneller Unterschriftensammler. Dritter Weg: Man kann auf die Infrastruktur und das Know-how kampagnenerprobter Institutionen wie Gewerkschaften, Umweltverbänden oder Parteien zurückgreifen. Das alles war bei der G9-Initiative nicht vorhanden.

Etwas Zweites kommt hinzu: Die G9-Initiative ist in die Mühlsteine einer geschickten Doppelstrategie vor allem der allein regierenden SPD geraten. Auf der einen Seite stand der „bad guy“ Rabe, dessen Aufgabe es war, die finanziellen Risiken und negativen Folgewirkungen einer Rückkehr zu G9 zu betonen. Und Rabe schaffte mit einer geschickten Volte ein Gegengewicht zur vermuteten Mehrheit der G9-Befürworter in der Bevölkerung: Er ließ die Schulkonferenzen der Gymnasien abstimmen – Ergebnis war ein eindeutiges Ja für G8.

Auf der anderen Seite war SPD-Fraktionschef Dressel der „good guy“. Zusammen mit dem schulpolitischen Sprecher Lars Holster verhandelte Dressel mit der Kerngruppe der Initiative im Frühjahr über mögliche Kompromisse. Die Gespräche scheiterten, aber Dressel setzte zwei wichtige Signale: Einerseits beschwor er immer wieder, dass die Unterredungen „auf Augenhöhe“ liefen, nicht von oben herab. Die Initiative fühlte sich ernst genommen. Das zweite Signal: Die SPD mischte sich inhaltlich ein statt abzuwarten und zeigte sich kompromissbereit.

Auch wenn es über konkrete Angebote auf beiden Seiten unterschiedliche Darstellungen gibt: Eine Zeit lang dürfte es zumindest die Chance auf eine einvernehmliche Lösung gegeben haben. Sie hätte darin bestehen können, in jedem Bezirk ein Gymnasium als Modellprojekt auf G9 umzustellen. Doch das war Mareile Kirsch damals zu wenig. Es war die Phase, in der die G9-Debatte bundesweit Konjunktur hatte.

Fazit: Die SPD hat aus dem schwarz-grünen Desaster der 2010 gescheiterten Primarschulreform gelernt. Damals verhandelten CDU und Grüne erst mit der von Scheuerl angeführten Volksinitiative, als es im Grunde schon zu spät war. Übrigens haben sich auch Union und Grüne als lernfähig erwiesen und ebenfalls Kompromissvorschläge vorgelegt, ohne dass sich die Initiative aber daraufhin auf Gespräche einließ.

Mareile Kirsch steht nun mit leeren Händen da. „Sie hat weder den Spatz in der Hand noch die Taube auf dem Dach“, wie ein Sozialdemokrat formuliert. Denn eins ist klar: In Hamburg wird es kein „Bayern zwei“ geben. Die bayerische Staatsregierung geht nun auf die G9-Befürworter zu, obwohl das dortige Volksbegehren ebenfalls gescheitert war. In Hamburg herrscht von sofort an wieder der Schulfrieden.