Einst verboten, haftet dem giftgrünen Getränk immer noch ein Hauch von Verruchtheit an. Einblicke in ein Lokal in der Schanze, in dem gleich mehrere Hundert Sorten des Alkohols angeboten werden.

Es ist Sonnabend, 21.30 Uhr. In der Schanze herrscht Hochbetrieb, die Nacht mit all ihren Verlockungen steht noch bevor. Die perfekte Zeit, um sich mit einem ungewöhnlichen Getränk auf die Unwägbarkeiten des Abends einzustellen. In der „Absinth-Bar“, direkt am U- und S-Bahnhof Sternschanze, haben sich drei Nachtschwärmer in spe eingefunden: Ein Pärchen am Ecktisch, gerade im Begriff zu gehen, und ein Mittzwanziger, alleine beim Bier. Er scheint auf was zu warten, spielt auf seinem Smartphone herum. Warum gerade hier? Ich habe freie Platzwahl und setze mich strategisch günstig, um gleichzeitig Tresen wie auch den Eingang im Blick zu haben. Etwas ungewohnt, in einer Bar mit aufgeklapptem Laptop zu sitzen. 65 Minuten habe ich Zeit, alles um mich herum aufzufangen und in Echtzeit aufzuschreiben.

Auf den Spuren von Edgar Allen Poe und Ernest Hemmingway

Die Wahl des Getränks sollte mit Bedacht erfolgen: Wie soll ich über die Welt einer Absinth-Bar schreiben, ohne selbst in den Wermut abzutauchen – andererseits sollte ich nach 55 Minuten noch in der Lage sein, die Tasten zu treffen in einer Folge, die einigermaßen Sinn macht. „Auch die Autoren Edgar Allen Poe und Ernest Hemingway waren Absinth-Trinker“, weiß Barmann Jan zu berichten. Bravo, das macht mir Mut. Ich stelle das Bild der beiden Literaten vor mein geistiges Auge: Der Barmann sieht aus wie eine Mischung aus beiden, er passt definitiv hierher.

Ich entscheide mich für einen „Francois Guy“, eine leichte Absinth-Variante mit „lediglich“ 45Prozent Alkohol. So um die 70Prozent sollen eigentlich Standard sein. Dieser Tropfen gewann bei den Absinthiades in Pontarlier 2002, 2003 und 2004 den goldenen Absinthlöffel. Steht zumindest in der Karte. Da kann ich also wenig falsch machen mit meiner Wahl. Nur die Gewissheit, dass es seit fast zehn Jahren offensichtlich einen besseren Absinth gibt, macht mich ein wenig nachdenklich.

Einführung in das Absinth-Ritual

Jan serviert mir ein großes Glas mit wenig Inhalt, dazu eine Karaffe Wasser. Wie ich höre, die obligatorische Art und Weise, das Absinth-Ritual zu vollziehen. Ich solle ihn kurz pur probieren, dann im Verhältnis 1:1 mischen. Schmeckt wie Küstennebel. Ich muss allerdings gestehen, dass mein letzter Ausflug ins Land des Küstennebels etwa 20 Jahre her ist. Oder ähnelt das giftgrüne Getränk eher dem Pastis?

21.43 Uhr, ich bin mittlerweile alleine in der Bar, die locker 25 Leute fassen würde. Absinth scheint sich als Trendgetränk um diese Abendstunde noch nicht durchgesetzt zu haben. Erstaunlich, da es in Deutschland immerhin bis ins Jahr 1998 verboten war. Auch der Energydrink, der angeblich Flügel verleiht, war ja eine Zeit lang nur in Österreich zu bekommen. Neben der offenbar genialen Vermarktung hat genau dieses Verbot den Reiz des Getränks aus- und damit den großen Erfolg möglich gemacht. Der Geschmack kann es nicht sein. Sonst würden sich erwachsene Menschen ja auch ständig Gummibärchen in Sprudelwasser auflösen. Und Absinth hat neben dem Reiz „Verboten“ ja auch noch zusätzlich das Prädikat „einzigartiger Rauschzustand“ zu bieten, wenn man Gerüchten Glauben schenken mag. Seine Zeit wird kommen, dessen bin ich mir sicher. Aber jetzt nur nicht abschweifen.

„Anregend und beflügelnd“

Im Hintergrund läuft eine Art sphärische Jazz-Musik. Angenehme Lautstärke, auch das Kerzenlicht wirkt. Über 400 Sorten Absinth bieten Jan und Yvonne hier seit 2009. Sie selbst haben sich schon oft von der „Grünen Fee“ inspirieren lassen, sagen sie. Ihr Alter und weitere Details wollen sie jedoch nicht verraten. „Wir hüllen uns gerne in Geheimnisse“, sagt Yvonne und grinst. Was den Absinth zu etwas Besonderem mache, würde ich jetzt gerne noch wissen. Er sei „anregend und beflügelnd“, anders als andere Alkoholika mache er eher wach und klar als schläfrig und matschig. Der Inhaltsstoff Thujon, ein ätherisches Öl, das in dem Ruf steht, abhängig zu machen und schwerwiegende gesundheitliche Schäden hervorzurufen, dürfe heute nur noch in so geringen Mengen zugesetzt werden, dass ein Absturz nur noch auf den Alkoholanteil zurückzuführen sei.

Ein weiteres Pärchen betritt den Raum und wählt den Fensterplatz. Schnellster Weg nach draußen, bei Absinth weiß man ja nie. Corrina, 48, und Claus, 48, genießen die Atmosphäre und die Beratung in der Bar. Absinth sei lecker, zudem habe die Zeremonie etwas Beruhigendes. Ein Glas reicht den beiden dann aber auch.

Ein wenig euphorischer schauen die Neuzugänge Sebastian, 30, Florian, 29, und Mariel, 27, auf ihre Drinks. Sie sind bereits das zweite Mal hier in der Absinth-Bar. Für sie steht der Genuss im Vordergrund, nicht etwa der Rausch, von dem sie noch nie etwas gehört haben wollen. Meine Hinweise, dass ihre Getränke – zumindest historisch – im Ruf stehen, einen Hang zum Selbstmord und Wahnsinn zu fördern, stoßen auf Unverständnis.

Tschechiche „Vision“ oder auch „böse Fee“

Es ist mittlerweile 22.13 Uhr. Auf einem Bein steht es sich bekanntlich nur schwerlich, insofern entscheide ich mich dieses Mal für eine „Vision“. Tschechischer Absinth, 70 Prozent Alkohol. Im Volksmund wird sie auch „böse Fee“ genannt. Ein Zuckerwürfel wird auf dem Absinthbesteck entzündet und verbrennt. Den Zucker einrühren, Wasser aufgießen. Der Name ist Programm, schmeckt wie Zauberei. HSV-Fans betreten den Raum. Sie wirken ernüchtert. Absinth erscheint ihnen augenscheinlich als das richtige Getränk, um die Gemüter zu beruhigen. Launige Sprüche machen die Runde. „Was hat van Gogh gesagt, als er sich im Absinth-Rausch die Ohren abschnitt?“ „Und ab sinth die Ohren!“ Humor haben die Jungs, sonst hätten sie den Saisonstart ihres Vereins auch nur schwer ertragen.

Der Laden füllt sich langsam. Eine Gruppe Dänen hält Einzug. Typische Wochenendtouristen, die spontan Halt gemacht haben. In Skandinavien sei das Getränk verboten, da konnten sie hier nicht widerstehen, als sie vorbeiliefen. Die „anregende Wirkung“ tritt bei vielen von ihnen blitzschnell ein. Ob ich Opiumpillen dabei hätte, die ja angeblich sehr gut zum Absinth passen würden? Ich verneine und lasse die Völkerverständigung gut sein. Es ist 22.35 Uhr, mein zweites Glas ist leer. Zwei Feen fliegen herein, lassen sich an der Bar nieder und zitieren Charles Baudelaire. Ich würde mich gerne zu ihnen gesellen, doch meine Zeit ist um. Und wenn man ehrlich ist, sind 65 Minuten mehr als genug für den Besuch einer Absinth-Bar.

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