Meinung
Merkwürdige Zeiten

Ich lass im Wintersturm Drachen steigen, denn …

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Arno Luik
Der Wahlhamburger Arno Luik  war Autor beim „Stern“ und  Chefredakteur der „taz“

Der Wahlhamburger Arno Luik war Autor beim „Stern“ und Chefredakteur der „taz“

Foto: Andreas Herzau

… es ist kaum mehr auszuhalten, was mir nonstop erzählt wird: Wir brauchen mehr Granaten, mehr Panzer.

Jetzt, gleich, schreibe ich einen Satz, den ich eigentlich nie habe schreiben wollen; ich fand ihn immer blöd, wenn ich ihn hörte, aber jetzt schreibe ich ihn, es muss sein, also: Ich bin froh, dass ich so alt bin. Bin ich froh, dass ich so alt bin? Ich bin 67, eigentlich für die heutige Zeit noch relativ jung, aber die Stichworte für mein merkwürdiges Alters-Frohsein sind zum Beispiel: Klimakatastrophe. Krieg. Aufrüstung.

Ich will nun nicht zu ernst werden, aber, verdammt noch mal, es fällt mir immer schwerer, unbeschwert oder gar fröhlich in den Tag zu gehen – zumindest, wenn ich die Nachrichten im Radio, im Fernsehen oder in Tageszeitungen höre, sehe, lese.

Es fällt mir immer schwerer, unbeschwert oder gar fröhlich in den Tag zu gehen

Ich schlage die Zeitungen auf, lese: „Habeck drängt Scholz in Panzerdebatte“, lese: „Europa braucht mehr Rüstungsfabriken“, lese: „Europa baut vor für den Kriegsfall“, lese: „Man braucht 300 Milliarden Sondervermögen für die Bundeswehr.“ Das fordert Eva Högl (SPD), Wehrbeauftragte des Bundestags, und der Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg verlangt apodiktisch, dass die Waffenproduktion „hochgefahren“ werde, er erinnert daran, dass die USA mit weniger als 2000 Flugzeugen in den Zweiten Weltkrieg gezogen seien, aber bis zum Ende dann 300.000 gebaut hätten: So etwas müsse man nun hinkriegen, sagt der Sozialdemokrat. Munition muss her, koste es, was es wolle, und zwar: subito.

Und die Grünen, die viele Jahre lang mal Frieden ohne Waffen schaffen wollten, lassen Sara Nanni, Ombudsfrau dieser militanten Ex-Friedenspartei im Verteidigungsausschuss, sagen, wer Frieden wolle, der müsse „die Rüstungsproduktion hochfahren“. Bei der Nato heißt es kurz und knackig: „Wir brauchen neue Rüstungsfabriken!“ Denn, so stellt die Außenministerin Annalena Baerbock orwellmäßig fest: „Waffen retten Leben!“

Und was Marie-Agnes Strack-Zimmermann (FDP), Vorsitzende des Verteidigungsausschusses, so alles fordert, verlangt – das will ich nun gar nicht erwähnen, es würde mich in Depressionen stürzen.Es ist, bis auf wenige Gegenstimmen, allgemeiner, überparteilicher Konsens: Die Waffenlager müssen gefüllt werden, Aufrüstung muss sein. Der Ukraine-Krieg! Die Aggression Russlands!

Epochenbruch!, ruft der Bundespräsident. Zeitenwende!, ruft der Bundeskanzler. Was für geniale Formulierungen der Regierenden, denn damit ist jede Verantwortung für den Gang der Dinge, das politische Tun der nicht hinterfragbaren Macht des Schicksals zugeteilt: Wir können nicht anders. Wir, Europa, die USA, aber vor allem Deutschland sind für das Stahlgewitter, das offenbar droht, unterausgerüstet.

Kann es sein, dass eine Art kollektiver Wahnsinn die Vernunft beiseitegewischt hat?

Was ist da bloß los? Kann es sein, dass eine Art kollektiver Wahnsinn die Vernunft beiseitegewischt hat? Jenseits der Emotionen, ein kühler Blick auf die aktuellen Wehretatzahlen, ich weiß, es bringt nichts, gleichwohl: 2021 haben die Staaten über zwei Billionen US-Dollar fürs
Militär ausgegeben, so viel wie noch nie. Eine Zahl von beeindruckender Länge: 2.113.000.000.000 Dollar.

Den größten Anteil an diesen Ausgaben (das sind Zahlen des Stockholmer Friedensforschungsinstituts SIPRI) haben die USA mit mehr als 800 Milliarden US-Dollar, das sind 38 Prozent aller Rüstungsausgaben weltweit.

Anders ausgedrückt: Für ihre Kriegsrüstung gaben die USA etwa so viel aus wie die folgenden zehn Länder auf der Rüstungsrangliste: China verpulverte 293 Milliarden US-Dollar, Indien 76,6 Milliarden; Großbritannien 68,4 Milliarden; Russland liegt auf Platz 5 mit 65,9 Milliarden Dollar; Frankreich 56,6 Milliarden, Deutschland 56 Milliarden Dollar.

Allein die europäischen Nato-Staaten gaben 2021 gut 342 Milliarden US-Dollar für ihre Armeen aus – mehr als das Fünf­fache des russischen Wehretats. Und da erzählen mir HofreiterScholzHabeckHöglStrack-ZimmermannMerzvonderLeyenSöderBaerbockPistorius nonstop: Wir müssen noch mehr Geld in die Rüstung stecken! Mal polemisch gefragt, nein, voller Verzweiflung: Geht’s noch?

Ich schalte das Fernsehen aus, drehe den Radioton runter, klappe die Zeitung zu und gehe raus, um im Wintersturm auf einer Wiese Drachen steigen zu lassen.

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