Meinung
Dohnanyi am Freitag

Warum Willy Brandt zurücktrat

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Klaus von Dohnanyi
Hamburgs ehemaliger Bürgermeister Klaus von Dohnanyi und Matthias Iken, stellvertretender Chefredakteur des Hamburger Abendblatts.

Hamburgs ehemaliger Bürgermeister Klaus von Dohnanyi und Matthias Iken, stellvertretender Chefredakteur des Hamburger Abendblatts.

Foto: Sven Simon/Andreas Laible / imago images/HA

Hamburgs Altbürgermeister im Gespräch mit Matthias Iken. Heute über den öffentlichen Dienst.

Matthias Iken: Die Dienstleistungsgewerkschaft Ver.di fordert Gehaltssteigerungen von 10,5 Prozent – das erinnert fast an die legendäre Kluncker-Runde 1974, als die ÖTV unter Heinz Kluncker sogar 15 Prozent forderte ...

Klaus von Dohnanyi: Als ich die Forderungen von Ver.di las, fiel mir Heinz Kluncker auch sofort ein. Beim öffentlichen Dienst ist die Politik immer in einem Dilemma. Einerseits sollte sie als Arbeitgeber den Lebensstandard und die Arbeitsplätze der Beschäftigten sichern, andererseits muss das ja am Ende jemand bezahlen: der Steuerzahler, den die Politik ebenso vertritt.

Der schimpft zwar über die Bürokratie im öffentlichen Dienst – aber doch bitte keinen Personalabbau bei der Müllabfuhr, der Polizei, den Krankenhäusern, den Kitas oder Schulen! Und die allgemeine Personalknappheit ruft sogar ohne Inflation hier nach verbesserten Lohnbedingungen. Könnten Steuererhöhungen bei den oberen Einkommensschichten das Problem lösen? Auf längere Sicht wohl kaum, es liegt tiefer.

Iken: Heute wie damals geht es um die Folgen der Energiekrise und der Inflation. Wiederholt sich 1974?

Dohnanyi: Aktuell sind das sicher die Ursachen, aber warum kann Volkswagen damit eher fertig werden als der öffentliche Dienst? Weil Volkswagen tiefgreifend rationalisieren kann, aber wollen wir in Schulen mit Robotern unterrichten, so wie VW heute seine Autos baut? Oder die Polizei Robotern anvertrauen? Oder im Orchester ohne Geigen spielen?

Sie alle profitieren auch von der Digitalisierung, aber das ersetzt nicht die Menschen, die doch persönlich gebraucht werden. Vor zehn Jahren veröffentlichte der bedeutende Ökonom William Baumol in „The Cost Disease“ (Die Kostenkrankheit) eine Erklärung, warum zum Beispiel die Gesundheitssysteme der Welt immer stärker aus ihrem geplanten Kostenrahmen fallen: Rationalisierung ist nur begrenzt oder gar nicht möglich! Also was tun? Wir haben noch keine Antwort.

Iken: Wenige Wochen nach dem Tarifabschluss 1974 trat Kanzler Brandt zurück. Welche Rolle spielte dabei der Tarifstreit?

Dohnanyi: Ich glaube, eine Nebenrolle. Es war doch eher die Spionageaffäre Guillaume, die ihn zu Fall brachte. Und vielleicht, noch wichtiger: Willy Brandts persönliche Erschöpfung. Man spürte sie im Kabinett. Hatte er vielleicht seine schwierigste Reformaufgabe vollbracht und neues Vertrauen zu Deutschland in Russland geschaffen, ohne das 15 Jahre später Mauerfall und Wiedervereinigung für Gorba­tschow kaum möglich gewesen wären? Brandt war eben der große Mann für die richtige Stunde.

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