Meinung
Dohnanyi am Freitag

Élysée-Vertrag: Führungsloses Europa

| Lesedauer: 2 Minuten
Hamburgs ehemaliger Bürgermeister Klaus von Dohnanyi und Matthias Iken, stellvertretender Chefredakteur des Hamburger Abendblatts.

Hamburgs ehemaliger Bürgermeister Klaus von Dohnanyi und Matthias Iken, stellvertretender Chefredakteur des Hamburger Abendblatts.

Foto: Sven Simon/Andreas Laible / imago images/HA

Hamburgs Altbürgermeister im Gespräch mit Matthias Iken. Heute über den Élysée-Vertrag.

Matthias Iken: Der Élysée-Vertrag ist nun 60 Jahre alt. Was wir gerade glücklich gefeiert haben, war damals heftig umstritten.

Klaus von Dohnanyi: Wir feierten zunächst die wundervolle Aussöhnung zwischen den beiden großen europäischen Nationen, von denen über viele Jahrhunderte die meisten blutigen Kriege in Europa und später in der Welt ausgingen. Dieses Wunder der Versöhnung war nicht umstritten. Aber am 23. Januar 1963 wollten die beiden europäischen Staatsmänner und Autoren des Élysée-Vertrages, der Franzose Charles de Gaulle und der Deutsche Konrad Adenauer, weit mehr: Sie wollten Europa einen gemeinsamen Führungskern geben, für einen Weg zu europäischer Selbstbestimmung. Sie waren empört über die kühle Haltung der USA: Europa wird weder von Frankreich, Großbritannien oder Deutschland geführt, Europa wird von den USA geführt, so Kennedys Sicherheitsberater damals zu Adenauer. Dieses Kerneuropa kam aber nicht zustande, Europa blieb außenpolitisch führungslos.

Iken: Also doch kein Grund zu feiern?

Dohnanyi: Der Tag ist voll zwiespältiger Erinnerungen. Als der Inhalt des Vertrages bekannt wurde, gab es schon in der Bundesrepublik Streit: Die „Gaullisten“, wie zum Beispiel Franz Josef Strauß, befürworteten mehr europäische Selbstständigkeit, auch in Sicherheits- und Verteidigungsfragen; die „Atlantiker“ um Konrad Adenauers späteren Nachfolger Ludwig Erhard sahen den Einfluss der USA gefährdet. So auch die USA und Großbritannien. Sie griffen unverhohlen in den Ratifizierungsprozess ein, übten Druck auf den Bundestag aus und erreichten, dass dem Élysée-Vertrag durch eine Präambel der Kern europäischer Selbstbestimmung genommen wurde. Der Historiker Golo Mann dazu spitz: „Der Vertrag wurde nullifiziert in dem Augenblick, in dem er ratifiziert wurde.“

Iken: Wie lässt sich heute der stotternde deutsch-französische Motor wieder anwerfen?

Dohnanyi: Das Porzellan, das damals zerschlagen wurde, wurde nie wirklich gekittet. Kurzfristig wandte sich Frankreich von der EWG ab, und de Gaulles enttäuschte Bemerkung etwas später zu Konrad Adenauer „Je suis resté vierge“ (ich bin Jungfrau geblieben) gilt bis heute. Viele Versuche, den politischen Kern des Élysée-Vertrages wieder herzustellen, sind gescheitert. Beide Länder leben ihre Interessen. Der 23. Januar 1963 war deswegen aus meiner Sicht auch ein tragischer Tag europäischer Geschichte. Gibt der Ukraine-Krieg neuen Anlass für ein Zusammenrücken? Sollen denn sogar im Krieg weiterhin die USA allein für Europa entscheiden? Berlin und Paris bräuchten jetzt den Mut ihrer großen Vorgänger.

Mehr Artikel aus dieser Rubrik gibt's hier: Meinung