Meinung
Post aus Washington

Todesursache Nr. 1 für Amerikas Kinder? Schusswaffen-Gewalt

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Dirk Hautkapp  ist der US-Korrespondent  des Hamburger Abendblatts.

Dirk Hautkapp ist der US-Korrespondent des Hamburger Abendblatts.

Foto: Dirk Hautkapp

Zehn Jahre nach dem Schul-Massaker von Sandy Hook taucht Amerika an der Spitze einer Horror-Rangliste auf.

Washington. Bald ist Weihnachten, das Fest der Liebe und Versöhnung. Kann man da mit einem erschütternden Zahlenwerk kommen, das von einem weltweit einmaligen Phänomen von Tod und Elend kündet? Ein Phänomen, von dem die Verwundbarsten der Gesellschaft am meisten betroffen sind?

Fast auf den Tag genau zehn Jahre nach dem Grundschul-Massaker von Sandy Hook in Newtown/Connecticut, bei dem insgesamt 28 Menschen starben, darunter 20 Erstklässler, hätte es Sinn gemacht, nachzuschauen, ob Amerika aus der Tragödie wirklich gelernt hat. Aber die Antwort ist ja längst bekannt: Nein, hat es – abgesehen von kosmetischen gesetzlichen Veränderungen hie und da – nicht.

Mehr als 100 Kinder starben in den vergangenen 10 Jahren

Seit Sandy Hook gab es 54 weitere „school shootings”. Mehr als 100 Kinder starben dabei, 150 wurden verletzt. In diesem Jahr ließ die Katastrophe im texanischen Uvalde das Land kurz frösteln, bevor es wieder zur Tagesordnung überging. Ein 18-Jähriger hatte in der Rob Elementary School 19 Kinder und zwei Lehrerinnen erschossen. Seine Waffe, ein kinderleicht erhältliches Schnellfeuergewehr militärischer Artverwandtschaft, war fast identisch mit dem Mordwerkzeug aus Newtown. Noch Fragen?

Der Blick auf die Schul-Tragödien verzerrt jedoch die Realität. Sie machen im Jahr rund ein Prozent des größeren Pro­blems aus, das Amerika ein blutiges Alleinstellungsmerkmal verleiht. In dem Land, das sich trotz erschreckender zivilisatorischer Mängel als Leuchtfeuer für die Demokratien weltweit inszeniert, ist Schusswaffen-Gewalt in der Altersklasse 1 bis 19 Jahre die häufigste Todesursache.

Schwarze Kinder besonders häufig Opfer

Nicht Unfälle im Straßenverkehr. Nicht Drogen. Nicht Krebs. Nicht Herzkrankheiten. Schusswaffen! In Zahlen der staatlichen Gesundheitsbehörde CDC von 2020 (frischere gibt es noch nicht): 4357 – viertausenddreihundertsiebenundfünfzig – Kinder und Heranwachsende starben durch eine oder mehrere Kugeln. Das Gros geht auf Tötungsdelikte zurück. Dazu kommen rund 1000 Suizide. Überproportional oft betroffen sind schwarze Kinder und Jugendliche, vor allem Jungen. Sie sterben fünfmal so häufig wie weiße Kinder durch Waffen

Wie niederschmetternd die Zahlen sind, die in einem Land ohne Hornhaut auf der National-Seele Massenproteste und Aufstände auslösen würden, erschließt sich erst im Vergleich, den die unabhängige „Kaiser Family Foundation” ermittelt hat. Danach kommen die Indus­trie-Nationen England, Japan, Niederlande, Deutschland, Australien, Schweden, Österreich, Belgien, Frankreich, Schweiz und Kanada im Jahr 2020 auf 153 Todesfälle bei Kindern durch Schusswaffen. Zusammengerechnet! 4357 zu 153.

Amerika einsam an der Spitze

Obwohl die USA unter den zwölf untersuchten Nationen nur 45 Prozent der Bevölkerung stellen, gehen 97 Prozent aller Waffengewalt-Opfer im Kindesalter auf ihr Konto. Kämen die USA auf Todesfälle wie in Kanada (48 im Jahr 2020), würden im Land der „Freien und Mutigen” seit 2010 etwa 26.000 Kinder weniger durch Schusswaffengewalt gestorben sein.

Auf der Suche nach Gründen landen Forscher immer wieder bei simplen Parametern: Mehr Waffen führen zu mehr Toten. Und auch hier liegt Amerika einsam an der Spitze.

Nach jedem Amoklauf schnellen die Verkaufszahlen nach oben

Zwar gibt es auf Druck der Waffen-Lobby NRA keine amtlich verlässlichen Zahlen über den privaten Waffenbesitz. Aber Zahlen, die auf Angaben der Waffen-Industrie basieren, rangieren zwischen 345 Millionen und 420 Millionen. Es gibt also mehr Schießeisen in Amerika als Amerikaner. Tendenz steigend: Allein seit 2015 hat sich nach Erhebungen der Universitäten Harvard und Northeastern die Zahl der Waffenbesitzer von 55 Millionen auf 75 Millionen erhöht.

Vor allem nach jedem Amoklauf schnellen die Verkaufszahlen verlässlich nach oben. Viele Bürger decken sich dann teilweise zum ersten Mal mit Pistolen und Gewehren ein. Weil sie – auch durch NRA-Propaganda irregeleitet – befürchten, dass die Politik in Washington irgendwann doch den von Bundesstaat zu Bundesstaat unterschiedlich leichten Zugang zu Waffen erschweren oder ganz blockieren könnte.

Republikaner stellen sich gegen Veränderung

Tatsache ist: Nichts spricht dafür, dass in absehbarer Zeit dafür die nötigen Mehrheiten im Kongress zustandekommen können. Vor allem die Republikaner, die das ungeborene Leben über das geborene stellen, wehren sich gegen das, was Präsident Joe Biden in einer Gedenkstunden für Sandy Hook gesagt hat: „Wir haben die moralische Verpflichtung, Gesetze zu verabschieden und durchzusetzen, die verhindern können, dass sich so etwas wiederholt.”

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