Meinung
Meine wilden Zwanziger

Wissen wir unsere Demokratie genug zu schätzen?

| Lesedauer: 4 Minuten
Annabell Behrmann
Annabell Behrmann(29) ist Redakteurin des Abendblatts.

Annabell Behrmann(29) ist Redakteurin des Abendblatts.

Foto: Thorsten Ahlf

Angst, Traurigkeit, Wut: Viele Emotionen treffen aufeinander. In sozialen Medien werden sie geäußert – und wirken so weltweit.

Hamburg. Als ich vor einer Woche morgens aufwachte, die Eilmeldungen auf meinem Handy las, fühlte ich mich ohnmächtig. Krieg in Europa. Jeden Abend sitze ich vor dem Fernseher, sehe Bilder von Kindern, die sich an der ukrainischen Grenze von ihren Vätern verabschieden. Für wie lange? Für immer?

Aufnahmen zeigen eine Mutter, die mit ihrem krebskranken Kind in der Badewanne ausharrt, um sich vor Raketenangriffen in Charkiw zu schützen. Das Mädchen braucht dringend neue Medikamente. Doch die Wohnung zu verlassen könnte tödlich für die kleine Familie enden. Es nicht zu tun, ebenso. Ich komme mir lächerlich dabei vor, Tränen in den Augen zu haben, während ich sicher auf dem Sofa sitze und Ukrainerinnen und Ukrainer die Nächte in U-Bahn-Schächten verbringen. Ich lese Schlagzeilen, dass Putin seine Atomstreitkräfte in Alarmbereitschaft versetzt, und frage mich: Was bedeutet das alles? Wie wird unsere Welt nach dem Krieg aussehen?

Ukraine-Krieg: Angst, Traurigkeit, Wut, Hoffnung

So viele Emotionen treffen aufein­ander. Es macht mir eine Heidenangst, was mitten in Europa passiert. Gleichzeitig bewundere ich den Mut des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj und seines Volkes. Fühle mit den Männern, die noch nie eine Waffe in der Hand gehalten haben und kämpfen sollen. Empfinde Mitleid für die russischen Bürger, die unter den Sanktionen leiden, obwohl sie Putins Krieg nie wollten. Ich habe Hochachtung vor den Demonstranten, die gegen ihren größenwahnsinnigen Präsidenten auf die Straßen gehen, mit dem Wissen, möglicherweise verhaftet zu werden. Wissen wir es eigentlich genügend zu schätzen, wie groß das Geschenk ist, in einer Demokratie zu leben?

Angst, Traurigkeit, Wut, Hoffnung – bei Menschen auf der ganzen Welt hat sich in diesen Tagen ein Gefühlscocktail zusammengemischt. Die Emotionen möchten rausgelassen werden.

Für viele funktionieren die sozialen Medien wie eine Art Ventil. Dort schreiben sie sich ihre Gedanken zum Krieg von der Seele. Sie ändern ihre Profilbilder in die ukrainischen Nationalfarben, um ihre Solidarität zu bekunden. Verbreiten die Adressen von Hilfsstellen, an denen Schlafsäcke und Decken für die Geflüchteten abgegeben werden können. Rufen zu Spenden auf. Instagram und Facebook sind Scheinwelten – gerade erlebe ich sie aber so echt wie schon lange nicht mehr.

Jeder hat eigene Umgangsweise

Viele fühlen sich hilflos. Sie wollen ein Zeichen für den Frieden in die Welt senden. Die sozialen Medien bieten ihnen dafür eine Plattform. Es muss doch eine Wirkung haben, wenn Millionen von Menschen Putins Krieg verurteilen. Natürlich kursieren selbst jetzt Vorwürfe, einige wollten sich nur inszenieren. Der Prominente, der eine leer stehende Wohnung für hilfsbedürftige Ukrainer abzugeben hat und öffentlich auf der Suche nach Geflüchteten ist, versuche nur scheinheilig Likes abzugreifen. Ich kann nicht verstehen, dass Leute derzeit Kontingent dafür übrig haben, selbst in Hilfsaktionen etwas Negatives zu suchen. Ist nicht gerade jetzt die Zeit, Liebe in die Welt zu senden?

Jeder findet mit der aktuellen Situation seine eigene Umgangsweise. Als ich neun Jahre alt war, steuerten Flugzeuge in das World Trade Center in New York. Damals habe ich das Ausmaß der Terroranschläge nicht richtig verstanden. Aber ich wusste, dass Osama bin Laden für sie verantwortlich war. Das hat mich furchtbar wütend gemacht. Ich habe ihm einen Brief geschrieben und gefragt, warum er so viele Unschuldige getötet hat.

Soziale Medien: Gemeinschaft gibt Menschen Halt

Auch mehr als 20 Jahre später sind die Menschen auf der Suche nach einem Weg, mit ihren Gefühlen umzugehen. Viele wollen nicht untätig zu Hause herumsitzen, sondern ihren Anteil leisten, damit der Krieg endet oder zumindest erträglicher wird. Deswegen fahren einige an die ukrainische Grenze, um vor Ort Mütter mit ihren Kindern und alte Menschen zu versorgen. Andere organisieren Sammelaktionen für die Ukrainer. Viele spenden Geld. In Berlin haben sich mehr als 100.000 Menschen zwischen dem Brandenburger Tor und der Siegessäule versammelt, um gemeinsam für den Frieden zu demonstrieren. Die Bilder sind beeindruckend. Dank der klassischen, aber vor allem der sozialen Medien gehen sie um die Welt. Sie verbreiten ein Gemeinschaftsgefühl. Zeigen den Betroffenen, dass sie nicht alleine sind. Diese Ventile geben den Menschen Halt.

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