Meinung
Leitartikel

Corona-Politik: Olaf Scholz zaudert

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Miguel Sanches
Miguel Sanches

Miguel Sanches

Foto: Reto Klar / FUNKE Foto Services

SPD, Grüne und FDP sind geradezu versessen diskret. Der SPD-Kanzlerkandidat sollte sich zu Corona äußern.

SPD, Grüne und FDP sind geradezu versessen diskret. Es gibt allerdings einen Punkt, an dem Diskretion in Selbstvergessenheit übergeht oder zumindest so ausgelegt werden kann. Und dieser Punkt wurde beim Infektionsschutz überschritten.

Die Ampel-Wunschpartner steuerten auf einen Widerspruch zu: Zum einen wollten sie die epidemische Lage nationaler Tragweite nicht verlängern, was Signalcharakter hat. Zum anderen nicht damit herausrücken, was eine von ihnen geführte Regierung genau tun würde, um über den Herbst zu kommen.

Dass Handlungsbedarf besteht, steht ob der Inzidenzen und der Krankenhausbelegung mit Covid-Patienten außer Frage. Ein political Animal wie Markus Söder hat Witterung („Wo ist Scholz?“) aufgenommen. Ein Wirkungstreffer gelang Kanzleramtschef Helge Braun, als er unpolemisch und auf unaufgeregte Art feststellte, dass SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz eine Abstimmung der Corona-Politik aus Rücksicht auf die laufenden Verhandlungen verhindere. Das fände er für einen Kanzler „verantwortungslos“. Recht hatte er. Erst die Parteien, dann das Land? Das saß.

Es ist wohl kaum ein Zufall, dass nach Brauns Vorstoß an diesem Wochenende plötzlich Pläne der Ampel bekannt wurden. Das sind gewünschte Durchstechereien. Noch besser wäre es, Scholz und seine Partner würden Rede und Antwort stehen. Die Öffentlichkeit hat ein Recht darauf, ihre Pläne zu erfahren. Schweigen ist eine Sekundärtugend. Scholz war auf einem anderen Trip. Schon im Wahlkampf wurde das Thema Corona unterbelichtet.

Schon im Wahlkampf wurde das Thema Corona unterbelichtet

Die Hoffnung, nach der Impfkampagne zur Normalität zurückzukehren, war berechtigt, erweist sich aber als verfrüht und unrealistisch. Es gab seit Frühjahr 2020 grenzwertige Beschlüsse zum Infektionsschutz und einen Kommandostil, der an Amtsanmaßung grenzte. Es ist richtig, die Bürger- und Freiheitsrechte großzuschreiben – und die vornehmste Pflicht der FDP. Aber das darf nicht zu Realitätsverdrängung führen. Wir können nicht zur Normalität zurück, nur weil die FDP das gern hätte. Gute Politik beginnt mit dem Betrachten der Realität.

Gerade wenn es um die FDP geht, hat Scholz allerdings wohl Manschetten. Eine höhere Impfquote ist das wichtigste Anliegen, und die viel diskutierte Rückkehr zu den kostenlosen Tests ist zwar nicht in Bausch und Bogen zu verdammen, aber für diesen Zweck nicht zielführend, sondern kontraproduktiv. Wer Bürgertests wieder einführt, erspart es den Ungeimpften, ihr Verhalten zu überprüfen. 2G ist wiederum ein rabiates Modell zulasten der Ungeimpften, weil es sie von Teilen des öffentlichen Lebens faktisch ausschließt. Das führt nicht zusammen und ist angreifbar.

Olaf Scholz, übernehmen Sie

Vor Gericht steht bei der Überprüfung jeder Maßnahme eine Frage obenan: Ist die Maßnahme verhältnismäßig? Wurden alle niedrigschwelligen Mittel ausgeschöpft? Gewiss nicht. Weder war die Aufklärung optimal noch haben die Verantwortlichen genug Anreize geschaffen. Andere Staaten waren kreativer mit Lotterien, Prämien, Gutscheinen.

Es ist deprimierend: Wir stehen relativ unvorbereitet vor dem Beginn einer vierten Welle, die absehbar war, und müssen zurück auf Los gehen, Impfzentren wieder öffnen, Tests wieder kostenlos anbieten. Von der Scholz-Koalition darf man ein Gesamtkonzept erwarten mit Antworten auf zwei Fragen, die bisher zu kurz kommen: zu einer effektiveren Kontrolle der Einhaltung der Corona-Maßnahmen und zu einem Stopp des Abbaus der Betten in der Intensivmedizin. Die Arbeitsbedingungen für Pfleger zu verbessern, wäre angewandte Sozialdemokratie. Olaf Scholz, übernehmen Sie.

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