Man möchte sich selbst kneifen, so schnell eskalierte die Sache: Eine Razzia im Morgengrauen, ein Shitstorm in sozialen Medien, Aufregung in der ganzen Republik und selbst im Ausland, Vorwürfe auf Amtsmissbrauch und Innensenator Andy Grote (SPD) in Erklärungsnot – alles innerhalb von 36 Stunden und wegen vier Wörtern und einer Zahl, getwittert vom Account „ZooStPauli“, am 30. Mai, an Grote: „Du bist so 1 Pimmel“.
Nicht alle Beteiligten wollen sich dazu äußern, wie es so weit kommen konnte. Was aber bleibt, sind ernste Schäden, nicht nur für den Ruf von Politikern und Justiz. Und ein erneut angeschlagener Innensenator, der sich mit einer Mischung aus Instinktlosigkeit und Pech in diese Lage brachte.
„Pimmelgate“: Grotes Vorgehen ist unverhältnismäßig
Denn die Antwort auf die wichtigste Frage in dieser Affäre hätte auch Grote kennen müssen: Nein, weder ein Strafverfahren noch eine Durchsuchung sind in diesem Fall verhältnismäßig. Schon weil Grotes Tweet, auf den „ZooStPauli“ reagierte, selbst einen Beigeschmack hatte. Über Dämlichkeit und Corona-Ignoranz der Feiernden in der Schanze hatte Grote da getobt, nachdem er selbst im vergangenen Jahr einen illegalen „Umtrunk“ trotz Infektionsgefahr ausgerichtet hatte. Eine Strafe von 1000 Euro zahlte Grote damals – und schweigt bis heute zu Details der Veranstaltung.
Wer aber noch immer im Glashaus sitzt, kann sich Dünnhäutigkeit schlecht leisten. Erst recht bei einer „Beleidigung“, die auch für renommierte Juristen nicht einmal im Graubereich zu einer Straftat liegt.
Dem Senator ist dabei abzunehmen, dass er den Strafantrag nicht aus blanker Wut gegen den Twitter-Nutzer unterschrieb. Es sei doch die klare Zielsetzung des Senats, „Hate Speech“ niedrigschwelliger und aktiver zu verfolgen – und wer schon anderen dazu rate, Beleidigungen anzuzeigen, sollte das auch selbst tun. Der Gedanke mag nachvollziehbar klingen, ist aber ein Trugschluss.
Eindruck eines VIP-Bonus für Grote drängt sich auf
Die Realität hält mit dem Anspruch der Politik beim Thema „Hate Speech“ nämlich nicht mit. Die „mittlere zweistellige Zahl“ an Durchsuchungen wegen solcher Beleidigungen in diesem Jahr erscheint gering im Vergleich zur Masse an hasserfüllten Kommentaren im Netz. Den Vergewaltigungswünschen und Anfeindungen gegen Frauen, den Morddrohungen, dem offen rechtsradikalen, homophoben oder anderweitig extremistischen Dreck – der oft nicht einmal gelöscht wird, sondern bleibt. Von einer schnellen Hausdurchsuchung ganz zu schweigen. Wenn die Politik den Hass im Netz besiegen will, muss sie hier erst Vertrauen in die Justiz schaffen. „Pimmelgate“ bewirkt das Gegenteil: den Eindruck, dass es nur mit einem „VIP-Bonus“ eine Reaktion des Staates gibt.
Staatsanwaltschaft und Ermittlungsrichter wären deshalb gut beraten, genauer zu begründen, warum eine Durchsuchung angeblich notwendig war. Dass die Kavallerie bei „ZooStPauli“ einrücken würde, konnte Grote wohl nicht wissen. Eher rechnete er damit, dass das Verfahren eingestellt würde, wie andere zuvor. Für eine Einflussnahme auf die Staatsanwaltschaft gibt es kein Indiz.
Andy Grote wurde seiner Vorbildfunktion nicht gerecht
Besser als fast jeder andere in der Stadt weiß Grote aber auch, wie überlastet der Ermittlungsapparat ist. Wie es etwa im Betrugsbereich ernsthaft schon als Erfolg verkauft wurde, große Chargen von Fällen nicht mehr „durchzuermitteln“, sondern „ressourcenschonend“ zu begraben. Wie auch bei der „Hate Speech“ priorisiert werden muss.
Wenn Andy Grote ein Vorbild sein will, hätte er anders reagieren müssen, als ihn die Ermittler zu dem „Pimmel“-Tweet befragten. Sie freundlich wegschicken müssen, mit zwei einfachen Sätzen. Ich halte das schon aus. Und kümmert euch um die wichtigeren Fälle.
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