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In Deutschland regiert die Feigheit vor dem Streit

| Lesedauer: 4 Minuten
Matthias Iken

Die politische Debatte im Land ist erbärmlich – Agitation ersetzt Argumente, Mutmaßungen schlagen Fakten.

In diesen Tagen denke ich manchmal an unseren Gemeinschaftskunde-Leistungskurs vor 30 Jahren zurück. Die ­80er waren bewegte Jahre, wir stritten mit Lust und Leidenschaft über Nachrüstung, Umweltzerstörung und die Ausbeutung der Dritten Welt. Schon unsere Sitzordnung glich einem Bekenntnis. Wie in der Nationalversammlung nach der Revolution saßen die Progressiven links, die Konservativen rechts.

Links von mir war nur die Wand. Unser Lehrer war ein moderater Konservativer, aber einer mit Lust am Streit. Von ihm lernten wir bei allen inhaltlichen Differenzen Achtung vor dem politisch Andersdenkenden. Und weil Leistung die zentrale Rolle spielte, mussten unsere Argumente durchdacht, pointiert und schlüssig sein. Es war die Zeit vor der Political Correctness. Wir durften fast jede Meinung vertreten, wenn sie klug begründet war.

Vielleicht haben wir verlernt zu streiten

Mit dem Fall der Mauer fielen die Ideologien, die großen Differenzen schienen abgeräumt, eine ganz große Koalition prägte das Land. Vielleicht haben wir deshalb verlernt zu streiten. Heute ist der gesellschaftliche Diskurs inhaltlich erbärmlich und wird schnell persönlich. Bei den „Montagsdemons­trationen“ etwa rufen die einen „Volksverräter“ und die anderen „Nazis“ – es reicht, den Gegner moralisch zu diskreditieren. Dann benötigt man auch keine Argumente mehr.

Im Land regiert die Feigheit vor dem Streit. Podiumsdiskussionen verlaufen meist nach einem einfachen Prinzip – vier Stühle, eine Meinung. Und weil das Publikum der gleichen Meinung ist, kann man sich jeden Gedanken sparen. Mitunter wagt man sich an eine Variation – dann darf auf dem vierten Platz ein Andersdenkender Platz nehmen. Der Austausch gleicht dann einem Tribunal. Gedankenfaul wärmen wir uns im wohligen Gefühl, auf der richtigen Seite zu stehen.

„Es ist so bequem, unmündig zu sein. Habe ich ein Buch, das für mich Verstand hat, einen Seelsorger, der für mich ein Gewissen hat, einen Arzt, der für mich Diät beurteilt, und so weiter, so brauche ich mich ja nicht selbst zu bemühen“, schrieb Immanuel Kant 1784. Und er kannte das Fernsehen noch nicht.

Das Kulturmagazin „Titel Thesen Temperamente“ (ttt) bewies am Sonntag, dass manche in der ARD Sendung mit Sendungsbewusstsein verwechseln. Dort ging es um die „Gemeinsame Erklärung“ gegen „illegale Masseneinwanderung“. Diese Erklärung ist in der Tat inhaltlich dünn, aber von klugen Zeitgenossen unterschrieben worden wie Uwe Tellkamp, Henryk M. Broder oder Max Otte. Bei „ttt“ halten vier Intellektuelle dagegen, malen wortreich rechte Teufel an die Wand und dürfen in den zwei Sätzen (!) der Erklärung achteinhalb Minuten schürfen. Am Ende schrauben sie sich bis zu einem „Angriff auf unsere liberale Gesellschaft und die Demokratie“ sowie „völkischen Nationalismus“ hoch. Nur: Warum ist bei „ttt“ eigentlich niemand auf die Idee gekommen, mit einem Unterzeichner zu sprechen? Matthias Matussek oder Henryk Broder lassen doch keine Kamera aus. Die Antwort liefert die Redaktion Tage später im Internet nach: „Auf eine Stellungnahme haben wir ... bewusst verzichtet, weil es um die Außenwahrnehmung und nicht die Selbsteinschätzung der Initiatoren ging.“ Wie man es eben macht, wenn es mehr um Agitprop als um Journalismus geht.

Wirklich kontrovers geht es nur noch in den seltsamen Talkshows der Fernsehdemokratie zu. Da treffen sich nicht die klügsten Köpfe, sondern die schrillsten Schreihälse. Es ist die Comicvariante einer Debatte, oft eher ein Kuriositätenkabinett als ein Kabinett; Lautstärke ersetzt Rhetorik, Empörung das Verständnis, Mutmaßungen schlagen Fakten. Statt kluger Geistesblitze hagelt es Parolen und donnernden Applaus. Aber offenbar ist es das, was dem Publikum gefällt. Auch im Internet klicken sich zugespitzte Erzählungen am besten – entweder über radikale AfDler und polternde CSUler oder über gewalttätige Ausländer. Da lassen sich die eigenen Vorurteile am besten bestätigen. Viele meinen alles zu wissen – und lernen nichts mehr dazu.

Vielleicht benötigt das Land mehr gute Gemeinschaftskundelehrer. Und eine neue Lust am Streit gerade mit denen, deren Meinung man ablehnt.

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