Beschäftigte über 55 dürfen nicht länger nur als Kostenfaktor gesehen werden

Blicken die Europäer auf die deutsche Wirtschaft, dann ist oft vom „German Jobwunder“ die Rede. Die Arbeitsmarktreformen der rot-grünen Regierung unter Gerhard Schröder haben dazu geführt, dass zumindest in der offiziellen Statistik immer weniger Erwerbslose auftauchen. Die Flexibilisierung des Arbeitsmarktes hat eine neue Schicht schlecht bezahlter Beschäftigter entstehen lassen. Aber immerhin, sie haben wenigstens Arbeit, so jubeln zumindest die Neoliberalen. Auch wenn der Staat ihre Löhne meist bezuschussen muss, da sie von ihnen nicht leben können. Eine Beschäftigtengruppe verschwindet allerdings – trotz der umstrittenen Schröder-Reformen – zunehmend aus den Betrieben, obwohl sie es nicht zwingend müsste: Frauen und Männer, die älter als 55 Jahre sind.

Die Gründe dafür sind vielfältig und nicht selten sehr persönlicher Natur. Aber ein zentraler Treiber für den Abschied älterer Beschäftigter vom Arbeitsmarkt ist die fehlende Wertschätzung durch den Arbeitgeber. Gerade in großen, anonymen Konzernen werden Kollegen häufig primär als Kostenfaktor gesehen. Die Leistung für den Betrieb in den vergangenen Jahrzehnten zählt wenig, Fortbildungen werden nicht selten als unnötig empfunden – und dann natürlich der schnöde Mammon. Denn selbstverständlich verdient eine langjährige Fachkraft deutlich mehr als ein Berufsanfänger. Aber ist sie nicht auch besonders wichtig für das Unternehmen? Als Experte, Kollege, Mensch?

In Personalabteilungen wird viel über „corporate identity“ geredet, aber was tun Unternehmen tatsächlich, damit eine Identität mit dem Arbeitgeber, ein Wirgefühl unter den Beschäftigten entsteht. Zunehmende Leiharbeit und ständiger Kostendruck tragen sicherlich nicht dazu bei, dass es sich bei dem Ziel einer „corporate identity“ um mehr als eine neudeutsche Worthülse handelt.

Unter dem Diktat des Rotstifts leiden vor allem die älteren Arbeitnehmer. Sie sind nicht nur zu teuer, sondern den Personalverantwortlichen meist auch zu häufig krank oder zu ineffizient. Statt die Frage zu stellen, warum ältere Beschäftigte sich wegen Überforderung oder sogar Unterforderung krank melden und ein Rezept gegen diese Entwicklung zu schreiben, versuchen viele Betriebe, die Älteren lieber loszuwerden. Sie versüßen den Vorruhestand mit üppigen Abfindungen oder drängen zur Altersteilzeit. Eine fatale Tendenz.

Denn die Überalterung unserer Gesellschaft schreitet mit hohem Tempo voran. Allein in Hamburg werden mindestens 130.000 Arbeitnehmer über 55 Jahre in der nächsten Dekade in Rente gehen, Vorruhestand und Altersteilzeit noch nicht eingeschlossen, davon rund 114.000 Fachkräfte. Wie soll mit Blick auf niedrige Geburtenraten das Auffüllen dieser Lücke gelingen?

Dass Ältere eine Bereicherung für die Wirtschaft sind, zeigt unter anderem der deutliche Anstieg von Menschen über 50, die sich derzeit in Deutschland selbstständig machen. Meist von ihrem ehemaligen Arbeitgeber abgeschrieben, starten sie noch mal durch, riskieren einen Neuanfang und schaffen mit diesem Schritt nicht selten sogar weitere Jobs, indem sie Personal einstellen.

Es ist Zeit, dass die Schalter in den Köpfen der Personalverantwortlichen umgelegt werden. Ältere Kollegen dürfen nicht länger als Belastung, sondern müssen als Bereicherung wahrgenommen werden, um die es sich – im Interesse der Prosperität des Unternehmens und der Volkswirtschaft – zu kümmern lohnt. Allein auf Zuwanderung zu setzen, um die demografische Lücke in den nächsten Jahrzehnten zu schließen, ist ein sehr riskantes Unterfangen. Denn ob man es gerne liest oder nicht: Deutschland steht gerade bei qualifizierten Zuwanderern als Ziel nicht besonders weit oben auf der Wunschliste.