Hamburger sein wollen und Hamburger sein, das ist ein großer Unterschied. Missingsch war die Sprache des missglückten Hochdeutschs

Klein Erna ist eine fiktive Hamburger Deern (Mädchen), die seit Jahrzehnten wie lebendig vor unseren Augen steht – plietsch (schlau), krall (munter) und typisch hamburgisch. Als Klein Erna zur Schule kam, trug sie das Ihre zum Mief im Klassenraum bei, sodass die Lehrerin sich genötigt sah, eine Mitteilung an die Mutter in das Verkehrsheft zu schreiben: „Werte Frau Pumeier! Klein Erna riecht jümmers (immer) so streng, und ich bitte Sie, Klein Erna regelmäßig zu waschen.“ Am nächsten Tag steht als Antwort darunter: „Wertes Frollein! Klein Erna is keine Rose! Sie solln ihr nicht riechen, Sie solln ihr was lernen!“

Im Allgemeinen lehren die Lehrer und lernen die Schüler. Diese Aufgabenteilung ist selbst in der Hansestadt, wenn auch nicht immer mit optimalem Erfolg, versucht worden. Frau Pumeier sprach und schrieb jedoch ein reines Hamburgisch, ein missglücktes Hochdeutsch. Dieser Regiolekt (in einer bestimmten Region gesprochener Dialekt) wird auch Missingsch genannt, und viele Hamburger Lehrer lehrten über Generationen eine Worterklärung, die ihre Schüler falsch lernten und selbst im Rentenalter nach wie vor aggressiv verteidigen. Der Begriff „Missingsch“, so hieß es, bedeute eine Mischung aus Hoch- und Plattdeutsch und sei verwandt mit dem Messing, das ja ebenfalls eine Mischung (Legierung) aus Kupfer und Zink ist. Das klingt zwar einleuchtend, ist aber falsch.

Missingsch wird vielmehr abgeleitet von meißnisch, der Sprache der Meißener Kanzlei, von der die einheitliche neuhochdeutsche Standardsprache ausging. Dieses Meißnerische kam mit der Reformation als Fremdsprache in den Norden, dessen Muttersprache bis ins letzte Jahrhundert hinein das Niederdeutsche war, das bekanntlich den Eigennamen Plattdeutsch trägt.

Die Sprachentwicklung vom Germanischen zum Hochdeutschen entfaltete sich vom Süden hinauf in den Norden und war vor allem durch die 2., die hochdeutsche Lautverschiebung bestimmt. So wurde etwa Tiet zur Zeit oder das Dörp zum Dorf. Eine Linie, die von Westdeutschland bis zur Oder verläuft und einen Bogen südlich um Berlin macht, markiert die deutsche Sprachgrenze. Da sie den Rhein bei Benrath schneidet, wird sie Benrather Linie genannt. Das Niederdeutsche, das diese Entwicklung zum Hochdeutschen nicht mitgemacht hat, kann also kein hochdeutscher Dialekt sein. Es handelt sich um eine eigenständige Sprache.

Insofern ist auch Missingsch kein Dialekt, sondern der missglückte Versuch, hochdeutsch zu reden. Kurt Tucholsky hat in seinem „Schloss Gripsholm“ eine unübertreffliche Definition geliefert: „Missingsch ist das, was herauskommt, wenn ein Plattdeutscher hochdeutsch sprechen will. Er krabbelt auf der glatt gebohnerten Treppe der deutschen Grammatik empor und rutscht alle Nase lang wieder in sein geliebtes Platt zurück.“ Richtiges Missingsch setzt Plattdeutsch als Muttersprache voraus, und da es heutzutage kaum noch plattdeutsche Muttersprachler in der Hansestadt gibt, gibt es auch kein reines Missingsch mehr.

Um ein richtiger Hamburger zu sein, bedurfte es mehr als einer Bescheinigung vom Einwohnermeldeamt. Dazu gehörte eine bestimmte Einstellung und häufig auch Stellung. Ein Zugereister und Fremder wurde als Quiddje bezeichnet, der vielleicht dazugehören wollte, aber nicht dazugehörte. Ein Quiddje sprach geel („gelb“, kein reines Hamburger Platt), und weil die Quitte eine gelbe Frucht ist, wird ein „gelb“ Sprechender „Quiddje“ genannt. Eine solche Erklärung, die immer wieder dargeboten wird, ist natürlich dumm Tüüch (dummes Zeug). Unter Umständen stammt der Begriff, der erst 1865 in einer Zeitung auftauchte, von der Quittung für den Torzoll (Maut), die ein Fremder, der Hamburg betrat, als Aufenthaltsgenehmigung bei sich trug.

Man konnte Hamburger Ehrenbürger werden wie Herbert Weichmann, blieb aber, weil in Schlesien geboren, sein Leben lang ein Quiddje. Als Weichmann 1968 als damaliger Bürgermeister symbolisch den ersten Rammstoß zum Bau des Neuen Elbtunnels ausführte und versehentlich eine Spritzwasserdusche erhielt, hörte man unter den standesbewussten Festgästen die bissige Bemerkung: „Nun ist der Quiddje aus Schlesien doch noch mit Elbwasser getauft worden.“

Der Verfasser, 73, ist „Wortschatz“-Autor und früherer Chef vom Dienst des Abendblatts. Seine Sprach-Kolumne erscheint dienstags