Wir halten uns gern für die Weltmeister im Umweltschutz. Doch die Wirklichkeit sieht leider anders aus

Wir Deutsche feiern uns gerne als Champion: Fußball-, Export- und Klimaschutz-Weltmeister sind nur drei der Titel, die wir uns stolz umhängen. Doch lediglich die Kicker tragen ihn zu Recht. Bei den Ausfuhren liegen die Chinesen seit 2009 vorne, beim Klimaschutz ist die Bundesrepublik auf Platz acht abgerutscht. Während früher noch Bilder vom Kölner Dom, der im Meer versinkt, einem ganzen Land Panikattacken bescherten, zucken heute viele mit den Schultern. Klimawandel? Kennen wir schon, interessiert uns nicht.

Auch als das Schauspielhaus in der vergangenen Woche zum Theaterabend „2071“ lud, blieben viele Sitze leer. Dabei gelang es dem britischen Wissenschaftler Chris Rapley, Professor für Klimaforschung am University College London und ehemaliger Direktor des dortigen Science Museums und des British Antarctic Survey, viele drängende Fragen zu stellen. Er formulierte sie leise, sodass sie länger nachhallen, er machte es betont unspektakulär, sodass sie eine besondere Wirkung entfalteten. Und Rapley gab Denkanstöße, für die vermutlich jeder Grünen-Politiker öffentlich durch den Kakao gezogen und jeder AfD-Politiker aus dem Theater geprügelt worden wäre.

Denn Chris Rapley hatte gleich drei Gedanken im Gepäck, die schwer gegen den deutschen Wohlfühl-Mainstream bürsteten. Der erste war seine wohlwollende Einschätzung der Atomenergie. Rapley geht es ums Klima – und da steht er mit einer positiven Sichtweise der Kernkraft beileibe nicht allein. Der deutsche Blitzausstieg nach dem Tsunami in Japan ist nicht nur ein nationaler Sonderweg, er wirkt bislang klimapolitisch kontraproduktiv. Seit 2011, als die Physikerin Angela Merkel über Nacht die ersten Reaktoren abschalten ließ, steigen in Deutschland die Treibhausemissionen wieder. Bis dahin waren sie fast kontinuierlich auf 930 Millionen Tonnen gefallen. Im Jahr 2012 kletterten sie wieder auf 940, im vergangenen Jahr sogar auf 951 Millionen Tonnen. Schuld daran ist die Kohleverstromung, die massiv zugenommen hat. Schon jetzt ist klar: Die ehrgeizigen Klimaschutzziele der Bundesregierung, die Emission bis 2020 auf 750 Millionen Tonnen zu drücken, klingen ähnlich realistisch wie der Champions- League-Sieg des HSV.

Interessant ist auch, welchen Beruf Rapley seinen Enkeln empfiehlt: Ingenieur – um an der CO2-Minimierung und der Anpassung an den Klimawandel zu arbeiten. Man sollte erwarten, dass Deutschland, das Land der Energiewende, hier besonders ambitioniert unterwegs ist. Tatsächlich hat sich an hiesigen Universitäten das „hauptberuflich wissenschaftliche Personal“ in den Ingenieurswissenschaften zwischen 2003 und 2013 deutlich vergrößert. Das Plus von 47,8 Prozent wird zudem von der Entwicklung in den vergangenen Monaten getrieben. Schaut man aber auf Vergleichsdaten, weicht die Freude der Ernüchterung. In den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften betrug das Plus zeitgleich 47,6 Prozent. Blickt man in die Fachbereiche, wird aus Ernüchterung Unverständnis. So wuchsen in den vergangenen Jahren Fächer wie Geschichte (plus 53 Prozent), Psychologie (plus 49), Philosophie (plus 62) viel schneller als etwa die Elektrotechnik, die nur um 40 Prozent zulegte. Vielleicht werden im Jahr 2071 Historiker perfekt über die psychologischen Blockaden der Deutschen anno 2014 philosophieren können; ein paar Nobelpreisträger, Techniker und Erfinder würden dem Klima mehr helfen.

Und noch einen dritten Gedankenanstoß hatte Rapley für seine Zuschauer parat – die Frage nach dem eigenen Lebensstil. Leben wir Deutschen (mit einem CO2-Pro-Kopf-Ausstoß von 9,4 Tonnen leider auf dem Weg nach vorn) wirklich so ökologisch, wie wir glauben? Das Altglas mit dem Geländewagen zum Container zu bringen ist dem Klima so dienlich wie auf dem Urlaubsflug ein veganes Essen zu bestellen. Vielleicht ist es die Ahnung der eigenen Inkonsequenz, die das Thema Klimawandel in den Köpfen mehr und mehr ausblendet. Und angesichts eines Supersommers verliert die Erderwärmung offenbar auch ihren Schrecken. Zwei Grad mehr im Jahresschnitt halten einige eher für eine Verheißung denn für eine Bedrohung. Wer denkt schon an Bangladesch?

Die Klimadebatte muss hierzulande schleunigst wieder in Schwung kommen. Chris Rapley sollte noch ein paarmal im Schauspielhaus gastieren.