Das Land der Tüftler und Ingenieure verkommt zur Nation der Models und Superstars. Langsam bröckelt die Basis unseres Wohlstands

Es kommt eher selten vor, dass sich zwei Gegner in den Armen liegen. Entweder ist in einem solchen Fall etwas Außergewöhnliches passiert – oder Gefahr in Verzug. Kürzlich durfte man erleben, wie Gewerkschaften und der Industrieverband Seit’ an Seit’ marschieren: So trommelte der Deutsche Gewerkschaftsbund für die Zukunft der Industrie. Deutschland habe einen großen Teil des heutigen Wohlstands den Beschäftigten in der Industrie zu verdanken, betont die Hans-Böckler-Stiftung in einer Studie. Es geht nicht um das Ob, sondern um das Wie der Industriepolitik, sagte Uwe Polkaehn, Vorsitzender des DGB Nord.

Wenige Stunden später forderte Handelskammer-Vizepräses und Industrieverbandschef Michael Westhagemann auf dem Hamburger Industrietag ein „Bündnis für mehr Industrieakzeptanz“. „Nach der politischen Akzeptanz braucht die Industrie nun auch die gesellschaftliche Anerkennung für die Leistungen, die sie täglich erbringt“, sagte Westhagemann. Wenn Gewerkschaften und Unternehmer einheitlich um mehr Verständnis werben, lässt das aufhorchen.

Deutschland, das wie kaum ein anderes Land in Europa vom Wohl und Wehe der Industrie abhängt, steht vor einer schleichenden Deindustrialisierung. Und die ist keine Verschwörung finsterer Mächte, sie ist geduldet, gewollt, herbeiregiert. Alle Parteien haben die Infrastruktur in den vergangenen Jahrzehnten sträflich vernachlässigt, sie haben die Energiepreise explodieren lassen und nicht ausreichend auf den drohenden Fachkräftemangel reagiert. Die Unternehmen spüren die Folgen längst.

„Für die deutsche Industrie hängt an wettbewerbsfähigen Energiepreisen einfach alles“, warnte kürzlich der Konzernchef der SGL Carbon. „Wir befinden uns in einer Phase schleichender Deindustrialisierung.“ Ihre große Karbonfaserfabrik bauen die Wiesbadener nun in den USA. BASF hat angekündigt, wegen der hohen Energiekosten den Anteil heimischer Investitionen von einem Drittel auf ein Viertel zusammenzustreichen. Bayer und Thyssen denken über Verlagerungen nach, Aurubis drohte damit.

Auch wenn viele Investitionen im Ausland vor allem der Erschließung neuer Märkte dienen, muss die hiesige Investitionsschwäche alarmieren. Noch arbeiten über 900.000 Menschen in Norddeutschland in der Industrie, weitere Hunderttausende Arbeitsplätze finden sich in den nahen Dienstleistungen. Die Industrie, so der DGB, ist ein wesentlicher Kern unserer Lebens- und Arbeitsverhältnisse!

Eine industrielle Kernschmelze wäre eine Katastrophe für das Land. Sie beginnt schleichend und nimmt an Geschwindigkeit zu, wenn eine kritische Masse erreicht ist. Dann setzt eine Kettenreaktion ein.

Doch die gesellschaftliche Elite diskutiert die Gefahren kaum – sie umkreist diesen Kern in weiter Ferne: Welcher Politiker kennt ein Unternehmen noch von innen? Welcher Richter hat jemals in einem Industriebetrieb gearbeitet? Und welcher Journalist? Führt am Ende die Akademisierung zu einer Entfremdung von der Basis der Wirtschaft? Vor dem Schwinden der Unternehmen beginnt die Deindustrialisierung in den Köpfen. Da sind wir ziemlich weit: Industrie, das verbinden die meisten mit Lärm, Dreck und Umweltverschmutzung. Der Fortschritt macht uns Angst, Unternehmer sind vielen suspekt.

Das beginnt schon in den Schulen, die Bücher verwenden, die Untersuchungen zufolge oft wirtschaftsfeindlich daherkommen. Der frühere EU-Industriekommissar Günther Verheugen ätzte: „Manches, was in deutschen Schulbüchern über Unternehmertum steht, grenzt an ideologische Manipulation.“ An den Hochschulen wehrt man sich mit Händen und Füßen gegen eine vermeintliche Wirtschaftsorientierung, auch die Hamburger Universität streicht Professorenstellen lieber in den Fächern Mathematik, Informatik und Naturwissenschaften. Inzwischen, so klagen Jugendforscher, prägen Casting-Shows schon die Berufswünsche der Jugendlichen. Ein Land von Topmodels und Superstars mag für den internationalen Wettbewerb gerüstet sein. Aber nicht für die Zukunft.

Kein Wunder, dass Gewerkschaften und Industrieverbände nervös werden.