Die Flüchtlingspolitik steht von vielen Seiten unter Beschuss. Moralisieren ist einfach, die Zusammenhänge aber sind etwas komplexer

Was haben sich die Deutschen verändert. Als Anfang der Neunziger Jahre immer mehr Menschen aus dem zerfallenden Jugoslawien, aus Rumänien und Bulgarien nach Deutschland flohen, verfiel die halbe Republik in Hysterie. „Das Boot ist voll“ barmte die Mehrheit, der Boulevard lieferte tagtäglich neue Schauergeschichten über „Asylbetrüger“, Rechtsradikale griffen Ausländer an. Als 1992 dann fast 440.000 Asylbewerber nach Deutschland kamen, zog die Politik die Notbremse und änderte das Asylrecht.

22 Jahre später steigen die Zahlen wieder rasant. Aber anders als früher engagieren sich Bürger für Flüchtlinge, in den Medien finden sich gottlob kaum Ausfälle, auch die Politik zeigt sich relativ populismusresistent. Das sind Mut machende Zeichen, und es ist ein Indiz dafür, dass die Deutschen aus ihrer Geschichte gelernt haben. Dazu dürfte die viel gescholtene Political Correctness beigetragen haben: Man verstärkt das Positive, relativiert das Negative, und baut so Vorurteile ab.

Inzwischen aber droht die gut gemeinte Zurückhaltung ins andere Extrem umzuschlagen – dass der Diskussionsverbote und Wirklichkeitsverzerrungen. Während früher Politik und Medien eher Vorurteile bedienten, trifft man heute auf Schweigen aus Angst vor dem falschen Wort. Beides ist falsch. Mit dem Verweis auf den Applaus, der von falscher Seite droht, blendet man Konflikte etwa mit Islamisten unter den Einwanderern aus, redet Probleme wie das der Kriminalität schön oder erschlägt Vorbehalte mit Moral. In der Sorge, missverstanden zu werden, werden kritische Fragen zur Zuwanderung nicht laut gestellt. Wer es doch wagt, steht schnell im Shitstorm. Jeder Versuch, die Debatte über Chancen, Herausforderungen und Grenzen der Einwanderung sachlich zu führen, ist so zum Scheitern verurteilt.

In diesen Tagen erlebt man auch in vielen Medien seltsame Herangehensweisen. Es wird weniger berichtet, was ist, als vielmehr, was sein sollte. Die alte Forderung des großen Journalisten Hajo Friedrichs („Sich nicht gemein machen mit einer Sache, auch nicht mit einer guten), sie gilt nur noch bedingt. Kommentatoren über Flüchtlingspolitik organisieren in ihrer Freizeit in Hamburg Hausbesetzungen für Verfolgte. In Radio-Interviews mit Hilfsorganisationen gefallen sich Journalisten als handzahme Stichwortgeber, während sie Politiker in Handlungszwängen aggressiv angehen. In Lobgesängen wird die Zuwanderung zur „Jahrhundertchance für Deutschland“ hochgegeigt, als würden vor allem Verfahrungstechniker, Chemiker und Ingenieure ins Land streben. Andere Kommentatoren urteilen voller Abscheu und Empörung über die schwierigen Bedingungen in den Flüchtlingsunterkünften. Nur: Die Zahlen stiegen in einem Tempo, auf das sich keine Kommune hat vorbereiten können. Hätte sie es getan, jeder Rechnungshofprüfer hätte sie abgewatscht. Und altkluge Kommentatoren vermutlich auch.

Politische Verantwortung verlangt mehr als leichtes Moralisieren. Das Geschehen im Nahen Osten ist ein Drama, dem sich Deutschland nicht verschließen kann und will. Die Hilfe wird lange dauern und einiges kosten – sie sollte es uns wert sein. Es geht um unsere Werte. Da wären alle gefordert, doch zu viele ducken sich weg. In der Schweiz stimmen etliche für neue Mauern. Australien gefällt sich in der Rolle des unbarmherzigen Verhinderers jeder illegalen Einwanderung und zwingt Flüchtlingsboote auf See zur Umkehr. All die, die mit Verve auf die deutsche Politik einprügeln, wie zuletzt auch Amnesty, sollten sich einmal anschauen, wer Flüchtlinge aufnimmt: Nach Zahlen der Weltbank lebten 2012 in Australien 30.000; in Italien 64.000, im wesentlich bevölkerungsärmeren Schweden fast 93.000. Deutschland tauchte mit 590.000 Flüchtlingen als einziges Industrieland unter den ersten Zehn auf. Zum Vergleich: Im steinreichen Saudi-Arabien waren es 577 – also nicht einmal ein Tausendstel; in Katar lebten 80 Flüchtlinge. Seit 2013 steht Deutschland unter allen Industriestaaten mit Abstand an erster Stelle der Aufnahmeländer, vor den USA.

Das zeigt die Maßlosigkeit vieler Kritiker an der deutschen Flüchtlingspolitik auf. Sie ist unfair und untergräbt den Konsens zur Hilfe. Auch die Kraft der Retter kann irgendwann an Grenzen stoßen. Diese Grenzen sind noch nicht erreicht, aber sie rücken näher. Höchste Zeit, in der Debatte von Moralismus auf Realismus umzuschalten.

Matthias Iken beleuchtet in seiner Kolumne jeden Montag Hamburg und die Welt