Bis vor Kurzem war es eine Debatte, die notdürftig das Sommerloch flickte oder verzweifelten Moderatoren bei akuter Themenarmut die Talkshow retten konnte – das Familienwahlrecht. Eine Forderung, die gut klang, die sich aber niemand ernsthaft zu eigen machen wollte. Nun bewegt sich etwas. Und schuld daran ist ausgerechnet die Bundesregierung, die Ruheständlern ein Geschenk nach dem anderen macht.
Die Große Koalition hat es mit der Einführung der Mütterrente und der abschlagsfreien Rente nach 45 Beitragsjahren so dreist getrieben, dass immer mehr Wissenschaftler, Publizisten und Politiker ein Familien- oder Kinderwahlrecht fordern. Der CDU-Vordenker Jens Spahn gehört zu den Befürwortern, der Wirtschaftsexperte Thomas Straubhaar ebenso wie der Publizist Olaf Gersemann. Sie alle eint die Sorge um die Generationengerechtigkeit. Zuletzt erhielten sie Unterstützung sogar aus der Koalition. Bundesfamilienministerin Manuela Schwesig (SPD) überraschte in einem Interview mit der „Rhein-Neckar-Zeitung“ mit der Aussage, sie finde die Idee eines Familienwahlrechts gut. Eltern wählen für ihre Kinder. Es ist nicht nur gut, es ist bitter nötig. Schon 2002 hatte der Ökonom Hans-Werner Sinn mit Blick auf die Bundespolitik gewarnt: „Nach 2016 wird Deutschland eine Gerontokratie sein.“ Was damals nach Science-Fiction klang, wird nun Wirklichkeit. Schon bei der nächsten Wahl dürfte über die Hälfte der Wähler jenseits der 55 Jahre sein – auch weil sie häufiger an die Urnen streben als jüngere. 2030 stellt diese Altersgruppe auch in absoluten Zahlen die Mehrheit. Nur naive Geister werden bestreiten, dass diese Alterung die Politik kaltlässt. Wie gut Demokratie als Interaktion mit dem Wähler funktioniert, hat das Kabinett Merkel/Nahles eindrucksvoll bewiesen.
Regierungshandeln aber muss nachhaltiger motiviert sein, als die eigene Klientel zufriedenzustellen. Um diese Motivation auch demokratisch zu unterfüttern, könnte ein Kinderwahlrecht die Lösung sein. Die Umsetzung halten Experten für möglich, man müsste dafür einen Teil des Artikels 38, Absatz 2 des Grundgesetzes streichen: „Wahlberechtigt ist, wer das achtzehnte Lebensjahr vollendet hat.“ Warum beispielsweise hat ein kinderloses Seniorenehepaar zwei Stimmen, die alleinerziehende Mutter mit vier minderjährigen Kindern aber nur eine Stimme? Wie zukunftsfähig ist ein Land, das ausgerechnet seiner Zukunft das Wahlrecht verweigert?
Es ist völlig legitim, dass Ältere andere Interessen und Ziele haben als Jüngere. Doch nur der Interessensausgleich sichert die Zukunft. Sicherheit ist ein hohes Gut, genauso aber der Mut zum Experiment. Rentenerhöhungen sind wichtig, so wie höhere Investitionen in Bildung. Das Bewahren des Althergebrachten ist so elementar wie der Aufbruch zu neuen Ufern. So lange die Demografie im Lot war, dachten viele Großeltern für ihre Kinder und Enkelkinder immer mit. Doch was ist, wenn viele gar keine Nachkommen mehr haben? Endet dann die Solidarität der Generationen und verwandelt sie sich in einen Egoismus der Alten? Muss man, wie Straubhaar warnt, die Jungen gegen eine „Diktatur der Alten schützen“?
Diese Fragen betreffen nicht nur die Zusammensetzung der Parlamente, sondern auch sämtliche Volksbefragungen. Die Frage nach Olympischen Sommerspielen in Hamburg ist in der Stadt umstritten – nicht aber in den Altersgruppen: Bei den über 65-Jährigen ist die Mehrheit von 45 Prozent gegen das Sportfest an der Elbe, nur 41 Prozent sind dafür. Bei den 18- bis 34-Jährigen hingegen wollen 69 Prozent die Spiele, nur ein Viertel lehnt sie ab. Die Jungen ahnen, dass Hamburg von Olympischen Sommerspielen profitieren wird – die Stadtentwicklung bekäme einen enormen Schub, die Metropole würde bekannter und internationaler, viele Jobs entstünden. Die Älteren hingegen wissen, dass die Jahre davor vor allem mit Baustellen und Behinderungen gepflastert wären.
Aber dürfen die Mühen weniger Monate eine Jahrhundertchance vermasseln? Wie viel Zukunft wollen wir Stadt und Land zugestehen, wie viel Gegenwart verfrühstücken? „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus“, heißt es im Grundgesetz. Das Volk, das sind auch Babys, Kinder und Jugendliche.
Matthias Iken beleuchtet in seiner Kolumne jeden Montag Hamburg und die Welt
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