Vor 50 Jahren gab Margaret Rutherford der Agatha-Christie-Detektivin ihr Gesicht, so unverwechselbar wie die Erkennungsmelodie

Wenn bekannte Serienstars plötzlich ersetzt werden, scheiden sich unter den Zuschauern die Geister. Noch heute ist Heinz Rühmann für viele der wahre „Pfarrer Brown“ und Ottfried Fischer bloß der ewige „Bulle von Tölz“. Ob sich der behäbig psychologisierende Neil Dudgeon als Nachfolger von John Nettles als „Inspector Barnaby“ durchsetzen wird, muss man abwarten. Benedict Cumberbatch und Robert Downey jr. sind nur die jüngsten in einer Reihe von Sherlock-Holmes-Inkarnationen. Umgekehrt ist es mit Margaret Rutherford, der ältesten Miss Marple.

Vor einem halben Jahrhundert, 1961 bis 1964, drehte George Pollock (auch an „Der dritte Mann“ beteiligt) die ersten vier Marple-Filme mit der unverwechselbaren Erkennungsmelodie von Ron Goodwin. Dass Pollock die Hauptrolle mit der mäßig erfolgreichen, schon fast 70 Jahre alten Mimin Rutherford besetzte, war ausgesprochen mutig. 1892 geboren, hatte sie erst mit 52 in einem Oscar-Wilde-Klassiker ihren schauspielerischen Durchbruch erlebt. Sie war keine Schönheit, hatte krumme Beine und ein Gesicht wie ein Faltenrock.

Vor allem entsprach sie überhaupt nicht der Miss Marple in Agatha Christies Romanen. Das war eine zerbrechliche, weißhaarige alte Dame mit Spitzenhäubchen, Tochter eines Domherrn der anglikanischen Kirche, ländlich-sittlich und sehr viktorianisch. Ihre Fälle löste sie in der kleinen Welt ihres Dorfes häufig beim Stricken, wobei St. Mary Mead glücklicherweise reich an Ereignissen war. Marple-Experten haben errechnet, dass es hier in Marple-Lebzeiten zu 16 gewaltsamen Todesfällen kam – Vergiften, Erwürgen, Ertränken, Erschießen – sowie zu vier Mordversuchen, fünf Raubüberfällen und mehreren Erpressungen. Miss Marples Ermittlerteam war der „Tuesday Club“, ein Kaminkränzchen, zu dem auch der Dorfarzt und ein pensionierter Kommissar gehörten und das später Pate für das Spiel „Cluedo“ stand (Oberst von Gatow mit der Rohrzange im Musikzimmer).

Bei Margaret Rutherfords Marple ist keine Spur mehr von viktorianischer Bescheidenheit. Sie ist ein resolutes Kind des Frauenaufbruchs in den Zwanzigerjahren, eine Aktivistin, die in ihrer Jugend Reitturniere, Schieß- und Fechtmeisterschaften gewonnen hat, Golf spielt und Giftarten mit ihrem Chemiebaukasten bestimmt. Wenn sie im Theater ein Melodram vorträgt, bleibt den Bühnenarbeitern der Mund offen stehen. Mit ihrer Mischung aus Hausfrauenkompetenz, Wetterfestigkeit und Widerspruchsgeist begründete sie einen völlig neuen Detektivinnentyp, der gut in die frecheren Siebziger passte, als die Filme ins deutsche Fernsehen kamen. Diese Marple erwarb sich bei uns schnell eine große Fangemeinde und wurde zur Blaupause vieler künftiger Fernseh-Kommissarinnen, auch in Bella Block stecken ein paar Marple-Prozente.

Agatha Christie selbst (1890–1976) war zunächst höchst unzufrieden mit diesen Marple-Filmen, die bis auf „16 Uhr 50 ab Paddington“ gar nicht auf Miss-Marple-Fällen basierten, sondern auf Geschichten ihrer zweiten bekannten Detektivfigur Hercule Poirot, und „Mörder ahoi!“ ist überhaupt kein Christie-Roman. Auch die Besetzung gefiel ihr nicht: Rutherford wirkte im Vergleich zur Ur-Figur wie ein Panzerfahrer neben einer Porzellanvase. Zudem hatte sie eine Rolle für ihren Ehemann Stringer Davis verlangt. Extra für ihn wurde „Mr. Stringer“ erfunden, Miss Marples treuer, etwas schusseliger Ermittlungsgehilfe in Knickerbockers, der ihre Pläne immer unterstützt (im wirklichen Leben spielte Stringer Davis eine ähnliche Rolle). Mr. Stringer stellt dramaturgisch passende Fragen wie „Sie meinen, der Mörder schlägt wieder zu?“, und Miss Marple antwortet wie eine weise alte Kröte: „That, Mr. Stringer, is the question.“

Inzwischen wurden Marple-Geschichten schon mehrfach verfilmt, zuletzt in einer aufwendigen britischen Serie (mit Geraldine McEwan, später mit Julia McKenzie). Margaret Rutherford starb 1972. Aber es hilft nichts: An dunklen Herbstabenden entspannt mich nichts so sehr wie ihre Einsätze als Hobbyreiterin in „Der Wachsblumenstrauß“ oder als nautische Nervensäge in „Mörder ahoi!“. Für mich bleibt sie die Mutter aller Miss Marples.

Irene Jung schreibt jeden Mittwoch über Aufregendes und Abgründiges im Alltag