EU versagt bei gemeinsamer Flüchtlingspolitik – zum Nachteil ihrer eigenen Bürger

Manchmal bedarf es eines Schlüsselereignisses, damit ein Problem die Aufmerksamkeit bekommt, die es verdient. Vor gut einem Jahr war es die Flüchtlingskatastrophe vor der italienischen Insel Lampedusa, bei der rund 390 Menschen ertranken, als ihr Boot kenterte. Bootsflüchtlinge aus Afrika gab es auch schon in großer Zahl zuvor. Lampedusa ist seitdem zum Synonym für die Misere geworden. Danach hatte die italienische Marine die Operation Mare Nostrum ins Leben gerufen, bei der seither 151.000 Menschen gerettet wurden. Ersetzt wird sie jetzt durch die EU-Mission Triton, geführt von Frontex, der „Europäischen Agentur für die operative Zusammenarbeit an den Außengrenzen der Mitgliedstaaten der Europäischen Union“, wie sie auf Eurokratisch heißt. Kurz eine Art europäischer Bundesgrenzschutz, dessen Schwerpunkt genau dort liegt. Mit 2,9 Millionen Euro monatlich steht zudem auch nur ein Drittel des Geldes zur Verfügung, das für Mare Nostrum aufgewendet wurde.

Immerhin aber gibt es Triton. Und natürlich werden die EU-Schiffe in Seenot geratene Menschen retten. Nur dass nicht mehr nach Schiffbrüchigen gesucht wird. Überhaupt herrscht bei allen anderen Fragen, die Flüchtlinge betreffen, weiter allgemeine Uneinigkeit. Es wird darüber gestritten, was eigentlich die Ziele sind, wer welche Verantwortung trägt und wer letztlich die Kosten übernimmt.

Derweil fliehen etwa aus Syrien und dem Irak noch mehr Menschen, seit dort die Terrormiliz IS ihr Unwesen treibt. Dass der Strom von Armutsflüchtlingen aus Afrika abreißen könnte, steht auch nicht zu erwarten.

Alle bisherigen Modelle der Entwicklungspolitik, die das Problem an der Wurzel lösen könnten, können angesichts der Lage südlich der Sahara getrost als gescheitert bezeichnet werden. Neue Konzepte – die zugegebenermaßen schwer zu finden sind und wohl noch schwerer umzusetzen wären – sind nicht in Sicht. Auch dass sich ein gebeuteltes Volk wie das von Burkina Faso gegen seinen Dauerherrscher erhebt, bedeutet nicht automatisch, dass das Land nun eine bessere Regierung bekommt. Schlimmstenfalls versinkt das zwar bettelarme, aber lange Zeit zumindest als stabil geltende Gemeinwesen im Chaos.

Europa wird also auf absehbare Zeit weiter mit Menschen rechnen müssen, die entweder auf der Flucht vor Krieg und Hunger oder einfach auf der Suche nach einem menschenwürdigen Leben an seine Tür klopfen. Und es könnte mehr und Besseres tun, um seiner Verantwortung gerecht zu werden: Bisher nehmen fünf Länder – Schweden, Deutschland, Italien, Großbritannien und Frankreich – in der Gemeinschaft 75 Prozent aller Asylbewerber auf. Es gibt aber 28 Mitgliedstaaten, von denen sich einige mit Hinweis auf die Dublin-Verordnung, nach der ein Asylsuchender in dem Mitgliedstaat, den er zuerst betreten hat, seinen Asylantrag stellen muss, ganz wegducken.

In einem hoch entwickelten Gemeinwesen wie der EU, das sich so viel auf seine christlichen und demokratischen Werte zugute hält, sollte auch eine faire Verteilung der Flüchtlinge nach Einwohnerzahl und Wirtschaftskraft möglich sein. Das Problem kann nicht den Mittelmeeranrainern und einigen Staaten, die guten Willens sind, überlassen werden. Eine faire Verteilung setzt allerdings auch voraus, dass etwa Italien seiner Verpflichtung nachkäme, die Ankömmlinge aus dem Süden ordnungsgemäß zu registrieren und nicht einfach mit einem Handgeld versehen weiter nach Norden zu schicken. Und ein alternder Kontinent sollte für meist junge und motivierte Menschen auch andere Perspektiven bieten können, als in Lagern zu dösen, Gürtel, Regenschirme, gefälschte Uhren oder echte Drogen verkaufen zu müssen. Das ist nicht nur für junge Afrikaner bitter, sondern auch für die Bürger der EU.

Der Autor leitet das Politikressort des Hamburger Abendblatts