Vor 40 Jahren kam Ikea. Und plötzlich wehte ein Hauch von Bullerbü durch deutsche WGs. Wenn keiner den Inbusschlüssel verlegt hatte

Als Ikea am 17. Oktober 1974 in Eching vor den Toren Münchens die erste Deutschland-Filiale eröffnete, ging ich noch zur Schule. Bei uns zu Hause stand zum Glück kein Gelsenkirchener Barock herum, stattdessen das übliche Sammelsurium aus modernen und Stilmöbeln: 50er-Jahre-Vitrinenschrank, Omas „Schäselong“, der Sekretär eines verstorbenen Großonkels und drei alte Ohrensessel von meinem Opa. Wenn mein Vater – der Modernist in der Familie – vorschlug, doch eins von „den alten Trumms“ auszumustern, erhob sich Protestgeschrei: „Die sind doch aber noch gut!“

Für die Generation meiner Eltern war Ikea lange eine Gesinnungsfrage. Billigmöbel kamen nicht ins Haus, auf den alten Schreibtischen wurden Mietverträge, Scheidungsurkunden und Testamente unterzeichnet. Für uns Jüngere dagegen war Ikea eine Offenbarung. In meiner WG besorgten wir uns Tische, Stühle und Sessel beim Sperrmüll (am liebsten in Eppendorf, da landeten hochwertige Möbel auf der Straße). Aber 1989 eröffnete Ikea in Kaltenkirchen. Ich weiß noch, wie wir uns von Freunden einen Opel Taunus mit Dachgepäckträger liehen, um die Ivar-Regale abzuholen.

Erinnern Sie sich? Ivar, von bestechender Schmucklosigkeit, entsprach ganz der Devise des Ikea-Gründers Ingvar Kamprad: „Einfachheit ist eine Tugend.“ Eigentlich bloß ein Kellerregal, ideal für Heimwerkerkram, Campingsachen oder Geschirrkartons, aber damals wurde Ivar in Tausenden Hamburger WGs zur Heimstatt von Marx-EngelsGesamtausgaben. Von Ikeas Slogan „Wer jung ist, hat mehr Geschmack als Geld“ fühlten wir uns kolossal angesprochen.

Nach Kamprads Vorstellung sollte Ikea den Inbegriff von Schweden verkörpern beziehungsweise bemöbeln. Wofür stand Schweden? Für Astrid Lindgren. Bullerbü-Land hatte laut einem Katalog der schwedischen Tourismuszentrale „etwas grundlegend Sicheres, Freundliches und Gemütliches“. Man dachte an ochsenblutrote Holzhäuser, an die Schärenlandschaft, den Geruch von Kiefern, Elche und Sauna. Schweden hatte den Nobelpreis und den Sozialstaat, den wir uns alle wünschten. Neben Wandbehängen aus Afghanistan und griechischen Flokatis holte man sich Schweden wirklich gern ins Wohnzimmer.

Aber die größte Innovation war: Man wuchs mit seinen Möbeln auf ganz neue Weise buchstäblich zusammen. „80 Prozent der beim Möbelkauf anfallenden Arbeit erledigt der Kunde selbst“, schreibt Rüdiger Jungbluth in „Die 11 Geheimnisse des Ikea-Erfolgs“. Selber alles ausmessen, selber das Warenpaket aus dem Ikea-Regal zerren, es zur Kasse fahren mit einem „Rollwagen, den auch ein schwaches Weib schieben kann“ (Ikea-Katalog 1974), es selber ins Auto wuchten. Verpackt wiegt ein Billy-Regal (80 cm) gut 43 Kilo, der 2,10 Meter lange Vitrinenschrank „Liatorp“ immerhin 83 Kilo. Man müsste mal ausrechnen, wie viele Bandscheibenvorfälle allein durch „Liatorp“ zusammenkamen, ganz zu schweigen vom „Pax“-Schranksystem.

Zu Hause ging die Innovation dann erst richtig los. „Wenn Sie lesen können, verstehen Sie auch unsere Montageanleitungen“, schrieben die neckischen Schweden (für Intellektuelle ist jeder Schritt sicherheitshalber auch bildlich dargestellt). Mit „Schraubst du noch oder wohnst du schon?“ traf Harald Schmidt den Punkt. Ich kenne Beziehungen, die an einem Ikea-Zusammenbau zerbrochen sind. Mit Ikea begann auch das Zeitalter des Inbusschlüssels. Kaum hat man das Möbel ohne Nervenzusammenbruch aufgestellt, legt man diesen Schlüssel an einen garantiert sicheren Platz, um ihn dort sofort zu vergessen. Weshalb der Schrank dann nie wieder... Aber das kennen Sie alles.

Inzwischen gibt es weltweit 317 Ikea-Häuser, sogar in Australien und China. Wir haben bereits das dritte „Klippan“-Sofa durchgesessen, meine Tochter wuchs in einem „Gulliver“-Bett auf. Der Vater eines Bekannten ist kürzlich in einem „Poäng“-Armsessel friedlich verstorben. Schweden hatte nie irgendwelche Übersee-Kolonien – aber es hat mit Schraub-Möbeln die ganze Welt kolonisiert. Das muss erst mal einer nachmachen.