Unser großer Nachbar tut sich schwer mit Reformen. Dauerkritik daran aber ist gefährlich

In den 60er-Jahren haben Zukunftsforscher wie der legendäre Amerikaner Herman Kahn für die Jahrtausendwende vorausgesagt, dass Frankreich Deutschland als Wirtschaftsmacht weit abhängen werde. Dass es andersherum gekommen ist, hat mancherlei Ursachen. Eine davon ist das deutlich schwerfälligere französische Wirtschaftssystem, das zwar ein starkes Gefälle zwischen Stadt und Land, dafür aber keinen so lebendigen Mittelstand oder ein vorbildlich funktionierendes duales Ausbildungsmodell aufweist. Auch hat die Osterweiterung Europas weit mehr Chancen für die zentral gelegene Exportnation Deutschland eröffnet als für Frankreich. Vor allem aber gibt es bei unserem westlichen Nachbarn vielleicht eher die Neigung zur Revolution, aber weniger zur Reform.

Überspitzt formuliert könnte man auch sagen, Frankreich ist ein katholisches Land, das sich mit dem eher protestantisch geprägten Geist des globalisierten Kapitalismus stets etwas schwergetan hat. Die föderale Struktur Deutschlands ist viel elastischer als der uralte französische Zentralismus, dem ein gerüttelt Maß an lähmenden Abhängigkeiten und auch an Vetternwirtschaft zu eigen ist. Die traditionellen, teilweise versteinerten Strukturen zu reformieren ist ein politisches Titanenwerk, das jeden Politiker rasch an den Rand der Abwahl bringen kann und von vielen Franzosen mit erheblichem Misstrauen beäugt wird. Jenseits des Rheins hat man sehr genau beobachtet: Deutschland hat seinen Erfolg aufgrund von einschneidenden Reformen geschafft, die vor allem von den ärmeren Schichten und vom unteren Mittelstand bezahlt wurden – und noch werden. Darauf ist man in Frankreich gerade in Zeiten von Regierungskrisen und dem steilen Aufstieg des rechtsextremen und populistischen Front National nicht sonderlich scharf. Staatspräsident François Hollande wirkt derzeit wie der tote Kapitän eines herumirrenden Geisterschiffs, den man am Steuerruder festgebunden hat. Sein Gegenentwurf einer sozialistischen Reform zur Gesundung Frankreichs ist grandios gescheitert; nun fehlt ihm die Kraft zur radikalen Kehrtwende. Immerhin ist Premier Manuel Valls – bereits der Dritte in Hollandes Amtszeit – die Verkörperung der Hoffnung auf eine gewisse Reformbereitschaft.

Für Deutschland gereicht das alles nicht gerade zum Vorteil. Wir brauchen ein gesundes Frankreich als unseren wichtigsten Wirtschaftspartner. Und dass Frankreich, immerhin die Nummer zwei in Europa, derzeit politisch wie ökonomisch in Depression versinkt, ist für uns gefährlich. Allein kann Deutschland in Europa auf Dauer nicht die Führungsrolle übernehmen, doch der viel beschworene deutsch-französische Motor wirkt derzeit, als habe man ihn mit Rohöl betankt: Es gibt viel Qualm und wenig Bewegung. Eine zickige Dauerkritik an Frankreichs schwach ausgeprägtem Reformwillen höhlt jedoch wie der stete Tropfen das deutsch-französische Verhältnis. Es haben nur solche Reformen Sinn, die man politisch auch durchsetzen kann; insofern ist etwas mehr Geduld mit Frankreich angebracht. Das deutsch-französische Verhältnis ist Kern und Seele des europäischen Einigungsprozesses. Es ist nichts weniger als ein Wunder, dass die jahrhundertealte, hasszerfressene „Erbfeindschaft“ in eine derart enge Partnerschaft münden konnte, bei der man gemeinsame Brigaden aufstellt und sich gegenseitig im Ausland diplomatisch vertritt.

Es gab ja einmal eine Zeit, in der wir uns noch weit näher waren. Das Reich Karls des Großen, der von den Franzosen als Charlemagne verehrt wird, gilt als eine Art historischer Vorläufer der Europäischen Union. Sein Kern bestand in einer starken Region, die erst unter den kurzsichtig rivalisierenden Erben Karls auseinandergerissen wurde: in die späteren Staaten Deutschland und Frankreich.