Wir steigern das Bruttoinlandsprodukt – Künftig werden auch Geschäfte aus dem Rotlichtmilieu und dem Rauschgifthandel mitgezählt

Zuerst hatte ich es für einen Scherz gehalten: Von diesem Monat an wird das Bruttoinlandsprodukt (BIP) europaweit neu berechnet. Nicht nur Aufwendungen für Forschung und Entwicklung sowie Militärgüter fließen künftig in die Berechnungen mit ein, sondern – jetzt kommt’s – illegale Aktivitäten wie Drogenhandel und Prostitution.

Als kleine Frau auf der Straße ist man ja mittlerweile an schräge Nachrichten aus der globalen Wirtschaftswelt gewöhnt und betrachtet sie mit einer Art heiterer Resignation. Aber das BIP war doch bisher eine feste, positiv besetzte Größe. „Bruttoinlandsprodukt“, das klingt schon so verlässlich nach Milcherträgen, Stahlrohren und Schiffsschrauben. Das BIP gibt den Gesamtwert aller Güter, Waren und Dienstleistungen an, die innerhalb eines Jahres in einer Volkswirtschaft hergestellt wurden, es ist die Messgröße für Wirtschaftswachstum. Vor allem wird mit dem BIP seit Jahrzehnten die wirtschaftliche Leistung einzelner Länder verglichen.

Dass die Berechnung jetzt geändert wurde, hat rein statistische Gründe: Nach einem Beschluss der Vereinten Nationen müssen alle BIPs nach dem gleichen „System of National Accounts" (SNA) berechnet werden, eine EU-Richtlinie verlangt die Anpassung.

Statistisch könnte es einen gewissen Sinn machen, den Anteil der Produktivitäten beim Drogenhandel und im Rotlichtmilieu einzelner Länder zu vergleichen. Wenn man bedenkt, was allein in St. Paulis Strip-Bars an Tischgeldern gezahlt oder im Laufhaus umgesetzt wird … Ist schließlich auch Arbeit, sogar legal. Auch die zunehmende Produktion von Wasserpfeifen – wahrscheinlich in Tausenden familiengeführter Kleinbetriebe – könnte jetzt in die volkswirtschaftliche Gesamtleistung einfließen. So lernen wir die randständigen Quellen unseres Wohlstands doch erst richtig kennen.

Man könnte auch sagen: Mit der neuen BIP-Berechnung haben Länder wie Kolumbien eine reelle Wachstumschance, das Drogenkartell in Medellin wird endlich volkswirtschaftlich gewürdigt. Profitieren könnten auch die Schleuserländer für den illegalen Frauenhandel wie Moldawien oder die Türkei. Jedes Land mit einer nennenswerten Schattenwirtschaft darf jetzt überlegen, wie es deren „Leistungen“ für sein BIP erfasst.

Haben wir vielleicht eine falsche Vorstellung von Wirtschaftswachstum? Für Statistiker ist das kein moralischer Begriff: Leistungen und Erträge sind auch in verbotenen Wirtschaftszweigen möglich. Prostitution etwa ist in Deutschland seit 2002 erlaubt, in fast allen anderen EU-Ländern aber verboten, was natürlich nicht heißt, dass sie damit verschwunden ist. Um zu ermessen, wie viel Geld damit verdient wird, müssen die Statistiker sich auf Schätzungen stützen. Ver.di etwa rechnet, dass in Deutschland rund 400.000 Prostituierte gut 14,5 Milliarden Euro erwirtschaften.

Noch komplizierter ist es mit dem Konsum von Marihuana, Heroin, Kokain, Crystal Meth und anderen Suchtstoffen, den das Bundesgesundheitsministerium jedes Jahr bei einer Befragung von 9000 Bundesbürgern ermittelt. Diese Konsum-Mengen werden dann mit den handelsüblichen Straßenpreisen hochgerechnet, die das BKA sammelt.

Aber mal im Ernst: Reden wir hier über Spielgeld? Spätestens beim Drogenhandel fragt man sich doch: Müssen den Einnahmen nicht auch die immensen (volkswirtschaftlichen) Kosten der Suchterkrankungen gegenübergestellt werden, bevor man den Posten „Drogenhandel“ einigermaßen reell ins BIP stellen kann? Und für welches „Wachstum“ stehen denn die illegal ins Land gebrachten Prostituierten, die erst in Bordellen verheizt und zuletzt auf dem Straßenstrich entsorgt werden?

Die Einbeziehung illegaler Geschäfte wird die heimische Wertschöpfung bloß um 0,1 Prozent steigern, schätzen Statistiker, die der Militärgüter und Forschungsinvestitionen bringt schon mehr: etwa drei Prozent. Vor allem aber wird mit diesem Statistik-Trick die nationale Schuldenstands-Quote gedrückt.

Mit anderen Worten: Mit Sex, Koks und Waffen rechnen wir uns reicher. Aber nicht klüger.