Sonnabend ist Schlagermove, und unser Quartier wird wieder zum öffentlichen Urinal und Swingerclub. Bitte jetzt keine Toleranzpredigten!

Je näher die Heimsuchung rückt, desto leerer wird St. Pauli. Bekannte in der Talstraße sind schon weg, zwei Nachbarn packen für ein Wochenende an der See. Manche Blitzmerker kommen wahrscheinlich erst in die Hufe, wenn die ersten der 320 Dixi-Klos und Urinale aufgestellt werden.

Es gibt einen Weltlinkshänder-, einen Weltputzfrauen- und sogar einen Welttoiletten-Tag, aber nur auf St. Pauli haben wir beim Schlagermove den Weltkomasauf-Tag. Rund 260 ehrenamtliche Sanitäter und Notärzte werden aufgeboten, um das Schlimmste zu verhindern. Trotzdem fallen rund um den bunten Umzug die Blutdrücke (vor Entkräftung) und vor allem die Schamschwellen. Wildfremde Spaßtouristen „kotzen, pinkeln überall hin und poppen in den Parklücken“, hat eine Anwohnerin bei einem Nachbarschaftsgespräch gesagt, und ihre Angaben kann ich persönlich bestätigen. Es sind dieselben Leute, die zu Hause angeblich gegen Katzenhaare allergisch sind und Nachbars Oma mit Zivilklagen drohen, wenn ihr Dackel einen Hundehaufen vor den Carport legt. Einmal im Jahr fahren sie nach Hamburg, verkleiden sich als Sonnenblume und wissen nach drei Stunden nicht mehr, wie sie heißen. Aber sie glauben: Auf St. Pauli darf man das, da darf man überhaupt alles.

Zur Rechtfertigung dieses Kollektivirrtums habe ich schon die verschiedensten Argumente gehört. Zum Beispiel: Der Schlagermove hat doch Tradition in Hamburg, und beim Kölner Karneval wird schließlich auch gesoffen. Damit, liebe Leute, seid ihr bei mir als gebürtiger Kölnerin an der falschen Adresse. Der Kölner Karneval ist seit dem Mittelalter an die Stadt Köln gebunden und klebt terminlich an den Tagen vor der österlichen Fastenzeit (genauso wie der Mardi Gras in New Orleans und der Carneval in Rio). Ja stimmt, da bleibt auch keine Kehle trocken, der Karneval ist längst verweltlicht, kommerzialisiert und touristifiziert. Aber was ist denn der Schlagermove? Den gibt es gerade mal 17 Jahre, er ist weder an einen Tag noch an einen Ort gebunden, könnte also genauso gut in der City Nord, in Horn oder in Schenefeld stattfinden.

Dass jeder große Event – von Alstervergnügen über Radrennen und Marathon bis zum Schlagermove – unbedingt vor der Kulisse der City oder der „sündigen Meile“ stattfinden muss, ist ein Lieblingsfimmel von PR-Agenturen, reine Veranstalter-Lyrik. „Tradition“ ist höchstens, dass sich der Bezirk Mitte immer wieder eine Klinke ans Knie quasseln lässt und die begehrten Locations hergibt. Zwar hören wir – auch schon seit Jahren – von verschiedenen Parteien, man müsse diesen Eventkalender jetzt aber wirklich mal ausdünnen. Die Grünen und sogar die veranstalterfreundliche CDU schrieben das in ihre Bezirks-Wahlprogramme. Ja, dann dünnt doch endlich mal los!

Wenn die „Traditionalisten“ fertig sind, kommen die Toleranzprediger: „Wenn ihr keine Veranstaltungen mögt, zieht gefälligst aufs Land und nicht nach St. Pauli“, sagen sie, und: „Der moderne Mensch hat eben das Bedürfnis, ausufernd zu feiern.“ Ich fürchte, dass hinter dieser so permissiv und lässig klingenden Haltung einfach mentale Feigheit steht: Man möchte nicht als Spielverderber gelten. Könnte ja böse Facebook-Einträge geben.

Und was heißt hier „Bedürfnis“? Ist es ein Bedürfnis, anderen Leuten in die Hausflure zu urinieren und öffentliche Plätze mit einem Swingerclub zu verwechseln? Hat der „moderne Mensch“ einen Anspruch darauf zu retardieren, und das stets auf St. Pauli?

Man kann sich über DOs und DON’Ts im öffentlichen Raum durchaus streiten. Ja, der Schlagermove ist friedlich und ein Magnet für Tausende. Aber dann sollen auch bitte dieselben Auflagen gelten, die jedes anständige Rockfestival erfüllen muss. Allein das Southside Festival in Baden-Württemberg stellt 450 mobile Toiletten plus etliche Urinale bei „nur“ 60.000 Besuchern. Dagegen sind 320 Dixi-Klos und ein paar Urinale für mindestens 350.000 Schlagermove-Besucher ein Witz. Leider einer, über den die Wohnbevölkerung nicht lachen kann. Sie trägt die Last dieses Events allein auf ihren Nerven. Also viel Spaß beim Feiern – aber künftig bitte woanders.

Irene Jung schreibt an dieser Stelle jeden Mittwoch – und täglich online: st.pauli-news.de