Wurden die Wähler betrogen? Und wofür steht eigentlich Jean-Claude Juncker?

Auf die Briten einzuprügeln ist in Europa sehr populär geworden. Sie gelten als egoistische, selbstverliebte Isolationisten, die mit Europa fremdeln und ständig mit dem Ausstieg aus der Union kokettieren. Ihre Politiker erinnern ein wenig an die englischen Fußballtorhüter – sie machen im entscheidenden Moment eine schlechte Figur. So sah auch Briten-Premier David Cameron aus, als er nun drohte, Großbritannien werde die EU verlassen, sollte Jean-Claude Juncker EU-Kommissionspräsident werden.

In der Tat müssen sich die Kritiker fragen, warum ausgerechnet nach der Europawahl diese Diskussion vom Zaun gebrochen wird. Die Parteien, auch die der Kanzlerin Angela Merkel, haben im Wahlkampf glauben gemacht, ihre Stimme sei eine Art Kanzlerstimme – viele Wähler dachten, sie würden zwischen Juncker und dem SPD-Politiker Martin Schulz den wichtigsten Posten Europas bestimmen. Was für eine Täuschung. Denn der Präsident der EU-Kommission wird eben von den Regierungschef der Mitgliedstaaten nominiert, nicht vom Parlament. Daran ändert auch nichts, dass die Kandidaten Schulz und Juncker eifrig an ihrer Selbstnominierung mitgestrickt haben.

Wenn man darum weiß, wirkt der Widerstand des Briten-Premier nur in der Rhetorik überzogen, in der Sache aber berechtigt. Jean-Claude Juncker ist ein Mann der Vergangenheit, dem man das Gestalten der Zukunft nicht übertragen möchte. Sicher, er ist ein überzeugter Europäer, der in deutschen Talkshows begeistert von Europa spricht. Er erinnert aber in seiner Denkweise an Helmut Kohl. Und wohin überbordende Begeisterung und mangelhafte Politik führt, lässt sich derzeit an der Krise der Gemeinschaftswährung besichtigen.

Juncker ist nicht nur ein Hauptkonstrukteur dieser fragilen Währungszone, er steht für ein Europa, das es abseits von Luxemburg, Straßburg und deutschen Talkshows leider kaum gibt. Juncker steht für ein Europa der Selbstermächtigung, für ein Konstrukt, das mehr sein will, als die meisten seiner Bürger wünschen. Er steht für einen Mangel an Selbstkritik, der noch jedes Wahlergebnis oder jede Volksabstimmung, die ein unerwünschtes Ergebnis brachte, aussaß, ignorierte, schönredete. Junckers Traum von einem einigen Europa und einem föderalen Kontinent ist ein großer und sympathischer Traum. Aber solange die Mehrheit der Europäer ihn nicht mitträumt, muss er warten.

Auch so ist der erbitterte Widerstand gegen Juncker in liberalen Staaten zu verstehen: Nicht nur die Briten opponieren gegen den Luxemburger, der stets der Umverteilung das Wort geredet hat, Euro-Bonds und Sozialtransfers forderte. Auch Schweden und Niederländer wissen, dass es bessere Kandidaten gibt als Juncker. Angela Merkel sieht das nicht anders. Die deutsche Kanzlerin hat nur das Problem, dass ihr sozialdemokratischer Koalitionspartner in Berlin plötzlich sein Herz für den Luxemburger Konservativen entdeckt hat und sie zu einer Frage der Demokratie stilisiert. Das darf man durchaus skurril finden – denn das Luxemburger Geschäftsmodell besteht abseits von europäischen Sonntagsreden darin, mit Steuerschlupflöchern Konzerne und Finanzdienstleister in das Großherzogtum zu locken. Amazon etwa konnte dank der Luxemburger Steuerpolitik schon Hunderte Millionen Euro sparen. Jean-Claude Juncker war nicht nur 20 Jahre Finanzminister in Luxemburg, sondern auch 18 Jahre Premierminister seines Heimatlandes.

Deutschland und Angela Merkel sollten Briten, Schweden und Holländern dankbar sein, dass der wichtige Posten des Kommissionspräsidenten noch einmal kritisch diskutiert wird. Wer über die Richtlinien europäischer Politik bestimmen will, muss den Rückhalt aller Mitgliedstaaten haben. Juncker, so viel ist schon jetzt deutlich geworden, hat ihn nicht.