Die Diskussion um Sterbehilfe läuft falsch. Für die meisten stellen sich am Ende des Lebens ganz andere Fragen als Tötung auf Verlangen

„Darf ich sterben – muss ich leben“ ist das Motto der „Woche für das Leben“, zu der die beiden großen Kirchen am Wochenende aufgerufen haben. Sie trifft in die wieder aufgeheizte Debatte: Soll organisierte Sterbehilfe nun erlaubt werden oder nicht? Die schwarz-rote Koalition will dazu „über die Fraktionsgrenzen hinweg“ ein neues Gesetz erarbeiten. Aber es gibt kaum ein Feld, auf dem die Meinungen so weit auseinandergehen.

Laut einer aktuellen DAK-Umfrage möchten 70 Prozent der Deutschen die Möglichkeit haben, auf ärztliche Hilfe bei der Selbsttötung zurückzugreifen. Bisher ist diese ärztliche Hilfe in Deutschland verboten, in Holland, Belgien und Luxemburg ist sie erlaubt. Der Staat, argumentieren einige, nimmt damit den Menschen das Recht auf einen selbstbestimmten Tod.

Ich habe oft den Eindruck, dass diese Diskussion in eine völlig falsche Richtung läuft. 2013 gab es in Deutschland 155 Fälle von Tod auf Verlangen beziehungsweise Beihilfe zur Selbsttötung. Rund 10.000 Menschen nehmen sich bei uns pro Jahr das Leben. Aber 670.000 Menschen sterben jährlich allein an Erkrankungen von Herz-Kreislauf-, Atmungs- und Verdauungssystem oder Krebs. Für 78 Prozent aller Sterbenden sind also ganz andere Fragen relevant als der Selbstmord auf Verlangen: Wann muss ich sterben? Wie verabschiede ich mich vom Leben? Mit wem rede ich darüber, wer begleitet mich am Ende?

Auf die Frage „Wie möchtest du sterben?“ antworten die meisten Menschen nicht: „durch Selbstmord“, sondern: „zu Hause, unter Angehörigen und Freunden, schmerzfrei, möglichst schnell“. Unter den Alleinstehenden aber ist die Antwort viel häufiger: „Wer will mich noch? Ich will niemandem zur Last fallen, also mach ich Schluss.“

Ein Hausarzt weiß das. Er kennt seine Pappenheimer über Jahre, er weiß, was eine schwere Krankheit für sie persönlich bedeutet, wie die Familie denkt, und er begleitet sie bis zum Tod. Aber das war früher. Heute landen Patienten im Ernstfall sehr schnell bei Spezialisten in „Stroke Units“ und Intensivstationen, die sie nicht kennen und die auf lebenserhaltende Maßnahmen geeicht sind. Selbst bei irreversiblen Schäden reanimiert man lieber einmal zu viel als einmal zu wenig. Auch die Angehörigen sind im Ausnahmezustand.

Wenn keine Patientenverfügung vorliegt, beginnt das große Rätselraten. Welche Aussicht besteht noch? Und wer hat denn Zeit im Klinikbetrieb für ein ausführliches Gespräch? Gerade alte Alleinstehende haben davor Angst: dass sie durch Routine zu langjährigem Siechtum verurteilt werden. „Darf ich endlich sterben, oder muss ich leben?“ Unsere größte Baustelle liegt in der Einsamkeit auf Pflege- und Klinikstationen.

„Man braucht Zeit und Gespräche, um sich mit dem Unausweichlichen auseinanderzusetzen“, sagt ein erfahrener Hamburger Hausarzt. Auch er hatte schon Patienten, die sagten: „Ich will sterben.“ Viele hätten dann in intensiven Unterhaltungen den Todeswunsch relativiert. Manchen Todkranken kann er nur noch mit einer konsequenten Schmerztherapie beistehen. „Es ist ein Weg des humanen Sterbens, den man gemeinsam geht.“

Aber: Zeit bedeutet in unserem streng geordneten und getakteten Gesundheitssystem Geld. Für einen oder mehrere Hausbesuche bei einem Todkranken bekommt ein Palliativmediziner pro Tag 72 Euro und hat 24 Stunden Rufbereitschaft (bei Palliativ-Vollversorgung).

Oder er teilt sich mit dem Pflegeteam 135 Euro pro Tag für die Betreuung (Teilversorgung). Dabei kommen Stundenlöhne heraus, bei denen Kfz-Mechaniker gar nicht erst die Zange heben. Oft brauchen die Angehörigen sogar mehr Betreuung als der Patient, sagt der Hausarzt. „Aber diese Zuwendung wird in unserem Gesundheitssystem nicht wertgeschätzt.“

Sterbebegleitung heißt nicht, bei Lebensmüden gegen Geld eine „Todesmaschine“ oder einen Medikamentencocktail abzuliefern. Wir müssen unsere Haus- und Palliativärzte für ihre Sterbebegleitung anständig bezahlen und sollten sie nicht mit Strafandrohungen verunsichern, wenn sie einem Sterbenden auf dessen Wunsch helfen.

Irene Jung schreibt an dieser Stelle jeden Mittwoch über Aufregendes und Abgründiges im Alltag