Nie ging es uns so gut wie heute. Doch hierzulande dominieren Kleinmut und Fortschrittsangst. Zu gern verklären wir die Vergangenheit und verteufeln die Zukunft.

Ach, die gute alte Zeit. Wer Bilder aus dem 19. Jahrhundert aus Hamburg zeigt, erntet nicht selten ein Seufzen voller Sehnen. Das war eine schöne Stadt, so viel idyllischer, anmutiger, ruhiger als heute. Die gute alte Zeit. Was für ein Unsinn.

Man sollte einmal Zeitgenossen lauschen, die aus der guten alten Zeit berichten. „Ich habe häufig im Winter die Beobachtung gemacht, dass wenn es in Hamburg sehr dunkel war, sodass man im Hause Licht anzünden musste, und ich dann nach Harburg, Pinneberg oder Bergedorf fuhr, dort der schönste Sonnenschein war! Es war also nicht Nebel oder Wolkenbildung, welche den Himmel verfinsterten, sondern Rauch, welcher der Windstille halber nicht fortziehen konnte und nun von ferne wie ein Wolkenmeer aussah.“ Die Luftverschmutzung in der Hansestadt hatte ein Ausmaß erreicht, die lebensgefährlich war.

Das heute so hippe Ottensen hieß Mottenburg, weil die Abgase von Industrie und Glasbläsern die Lungen der Bewohner mit Tuberkulose zerfressen hatten. In Altona, so beklagten Zeitgenossen einst, sei die Rauchbelästigung so arg, dass dort „keine Tanne gedeihen kann“.

Im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts zählten Meteorologen 130 Nebeltage in der Hansestadt und damit doppelt so viele wie vor der Industrialisierung. Der Rauch hieße heute Smog.

Der Münchner Hygieniker Michael Hahn stellte noch 1911 fassungslos fest: „Wenn man an einem trüben Wintermorgen in Hamburg ankommt, so bietet sich dem Beobachter zunächst ein höchst reizvolles Bild dar: Langsam lösen sich aus dem dichten Nebel unten am Hafen die alten Winkel und Gemäuer los, und ein Stück der alten, wahren Hansestadt entsteigt wie in einem Märchenbild der dichten Dunstwolke, die alles bedeckt. Wenn es aber dann allmählich Mittag wird, ohne dass die Luft wesentlich an Durchsichtigkeit gewinnt, wenn die Straßenlaternen angezündet bleiben, die Straßenbahnen beleuchtet, wenn sich nur mühsam der hastende Verkehr der großen Handelsstadt vollziehen kann, dann verliert das Bild allmählich an ästhetischem Reiz, der praktische Sinn gewinnt die Oberhand, und der moderne Mensch empfindet den Zustand als eine Plage.“

Damit nicht genug. Während andere Städte – auch das lange dänische Altona – längst Kläranlagen gebaut hatten, entnahmen die Hamburger ihr Wasser weiterhin ungefiltert der Elbe. Das Gängeviertel, heute ein Kleinod der Künstler, glich einem Slum: enge Gassen, in die kaum Licht fiel, Großfamilien in kleinsten Wohnungen, Gemeinschaftstoiletten für Dutzende Menschen waren Brutstätten für Krankheiten. Hier breitete sich 1892 die Cholera ein letztes Mal verheerend aus: „Meine Herren, ich vergesse, dass ich in Europa bin“, sagte der Berliner Mediziner Robert Koch angesichts der Bilder der Hansestadt.

Heute würden diese Bilder Kalendermotive sein. Während das Gestern verklärt wird, wird das Heute verteufelt. Wir sind vergangenheitsversessen und zukunftsvergessen. Ein Zeitreisender würde sich über unsere schlechte Laune nur noch wundern und über die Horrornachrichten, die unsere Gesellschaft alltäglich produziert. Angesichts unseres Lebensstandards von heute, betonte der Autor Marc Elsberg kürzlich: „Wir leben heute besser als der Kaiser vor 100 Jahren.“ Wer daran zweifelt, blicke in deutsche Küchen, Bäder, Wohnzimmer. Trotzdem dominieren die sorgenschweren Berichte über die „neue Armut“. Ob Menschenrechte, medizinische Versorgung, Freizeit, Entfaltungsmöglichkeiten – wohl keiner Generation vor uns ging es besser.

Wir sind die Generation mit dem höchsten Lebensstandard und mit den unbegrenzten Möglichkeiten – aber sind wir auch die dankbarste Generation? Oder eher die verzagteste?

Ausgerechnet heute werden in Deutschland so wenige Kinder geboren wie selten zuvor, aus diffuser Angst und gefühlter Unsicherheit. Obwohl uns die Vergangenheit lehren könnte, dass es einen Fortschritt der Menschheit gibt, hadern wir mit diesem Fortschritt und fürchten die Zukunft.

Dabei relativiert sich selbst die ökologische Weltuntergangsstimmung unserer Tage angesichts der Umwelt unserer Urgroßväter: Dioxinverseuchte Eier, Feinstaub, Klimakatastrophe? Solche Probleme hätten unsere Vorväter gern gehabt ...