Bei Merkels US-Besuch gehören auch NSA-Affäre und Genmais auf die Agenda

Als es früher im Biologie-Unterricht um die Evolution ging, tauchte irgendwann auch die Nahrungskette auf. Die Maus frisst Insekten, die Schlange die Maus, der Adler die Schlange. Nahrungsketten gibt es auch in der Welt der politischen Debatten: die größere Affäre schluckt die kleinere, der ernstere Konflikt verdrängt den weniger ernsten. Zuletzt hieß das: Die Abhörmaßnahmen der US- und britischen Geheimdienste verdrängten die Diskussion über ein Freihandelsabkommen zwischen EU und USA. Dann überschlugen sich die Ereignisse in der Ukraine, und niemand redete mehr über die Machenschaften der NSA. Der Staatsbesuch von Kanzlerin Merkel in den USA spuckt nun alle geschluckten Debatten zurück auf den Teller des Tagesgeschäfts. Und er zeigt, wie wenige Lösungen der Bundesregierung bisher eingefallen sind.

Allen voran die Konsequenzen aus der NSA-Affäre. Groß war der verbale Aufschrei von SPD und Union, als bekannt wurde, dass US-Geheimdienste Abermillionen von Daten in E-Mails anzapfen und das Handy der Kanzlerin abhören. Laut waren die Forderungen nach einem „No-Spy-Abkommen“, in dem sich EU und USA auf klare Grenzen gegen einen digitalen Lauschangriff verpflichten sollten. Fast nichts hat die Bundesregierung durchgesetzt. Alle lauten Forderungen sind verstummt. Außenminister Steinmeier spricht nur noch von einem „Cyber-Dialog“, den man mit den USA wolle. Merkel werde in Washington nicht auf öffentliche Konfrontation mit der Obama-Regierung in Sachen NSA gehen, so die Signale aus dem Kanzleramt. Das Gegenteil ist sogar der Fall: In einem Papier sperrt sich die Bundesregierung gegen eine Befragung des Ex-NSA-Mitarbeiters Edward Snowden im Untersuchungsausschuss des Bundestags. Snowden hatte die Abhöraktionen enthüllt. Die deutsche Regierung will die Amerikaner nicht durch dessen öffentliche Befragung provozieren. Gerade jetzt, wo Merkel und Steinmeier im Konflikt mit Russland auf ein gemeinsames Vorgehen mit den USA setzen. Unliebsame Konflikte vermeidet die Bundesregierung. Merkels Kabinett begibt sich in die Logik der politischen Nahrungskette.

Die Kanzlerin will in den USA offenbar vor allem für das Transatlantische Freihandelsabkommen werben, das derzeit zwischen Amerika und der EU ausgehandelt wird. Es ist der bequemste Konflikt. Doch auch hier sind zentrale Fragen ungeklärt: Welche Regeln gelten zwischen den Handelspartnern auf beiden Seiten des Atlantiks, wenn hier Umweltstandards und Verbraucherschutz höher sind als dort? US-Landwirte setzen stärker auf industrielle Großbetriebe und weniger auf kleinere Öko-Farmen. Der in den USA legale Genmais steht in der EU vor der Zulassung. Diese politische Entscheidung lässt ahnen, dass ein Abkommen mit den USA am Ende niedrigere Umwelt- und Verbraucherstandards für Europa bedeutet. Auch weil sich Deutschland gegenüber den USA zu sehr zurückhält.

Dennoch birgt das Abkommen die Chance, den größten Krisenherd langfristig abzukühlen. Einigen sich USA und EU auf engere Handelsbeziehungen, wird die Ukraine-Politik Washingtons weitsichtiger. Derzeit poltern vor allem Drohungen gegen Russland aus den USA gen Europa. Obamas Kurs steht dem vorsichtigen Austarieren der Bundesregierung zwischen deutschen Interessen, denen der EU und denen Russlands entgegen. Je enger die USA wirtschaftlich an Europa gebunden sind, desto intensiver werden sie sich für Stabilität in der EU einsetzen. Gleichzeitig eröffnet ein stärkerer Handel mit den USA auch osteuropäischen Ländern neue Absatzmärkte – und damit die Chance auf größere Unabhängigkeit von Russland.

Merkel muss die Logik der Nahrungskette durchbrechen. Bei ihrem Besuch in den USA gehören alle Konflikte auf den Verhandlungstisch – auch die schwer verdaulichen.