Es sollte jetzt vielmehr darum gehen, die Werte und Prinzipien der EU und der transatlantischen Partnerschaft zu verteidigen.

Die schwelende ukrainische Krise, deren Eskalationspotenzial derzeit niemand sicher beurteilen kann, ist auch deswegen die gravierendste Ost-West-Konfrontation seit dem Ende des Kalten Krieges, weil sie an Prinzipien rührt, die zu den Gründungspfeilern der Europäischen Union zählen – wie die territoriale Integrität von Staaten. Und weil sie uns zwingt, die gesamte Sicherheitsarchitektur, wie sie sich nach 1990 auf unserem Kontinent herausgebildet hat, auf den Prüfstand zu stellen.

Wladimir Putins Annexion der Krim ist als Instrument eiskalter Machtpolitik ein Rückfall in überwunden geglaubte imperialistische Reflexe. Putin hat demonstriert, dass er weniger an einem austarierten Friedenssystem in Europa interessiert ist als vielmehr an einer Ausweitung russischer Machtprojektion. Dass dies auf Kosten anderer und einer entspannten Atmosphäre geschieht, interessiert ihn nicht. Sein Vergleich mit der vom Westen geförderten Unabhängigkeit des Kosovo zulasten Serbiens hinkt – denn anders als im Kosovo hat es auf der Krim keinerlei ethnisch motivierte Pogrome gegeben, die zur Intervention gezwungen hätten.

Es ist richtig – der Westen hat seine 1990 gegebenen Zusagen gebrochen, die Nato nicht bis vor Russlands Haustür auszuweiten. Er hat auch ohne Rücksicht auf Moskau mit einer Aufnahme der Ukraine in die Nato gespielt und einseitig antirussische Kräfte in Kiew unterstützt. Doch dies rechtfertigt keineswegs den Bruch des Völkerrechts und des russisch-ukrainischen Freundschaftsvertrags. Das Problem für den Westen ist: Er ist in seinem Friedenskokon völlig davon überrascht worden, dass ein autoritärer Kreml-Herrscher die territoriale Integrität eines Staates in Europa in eklatanter Weise und mit militärischen Mitteln verletzt. Und während Putin aus der Konkursmasse der Sowjetarmee eine schlagkräftige neue Streitmacht geformt hat, überboten sich die europäischen Staaten im Abrüstungswettlauf. Voran die Bundeswehr: Die nur noch 183.000 deutschen Soldaten haben noch kümmerliche 250 Kampfpanzer im aktiven Bestand. Die Zahl der Reservisten schrumpfte von 2,5 Millionen – davon 800.000 innerhalb von 48 Stunden mobilisierbar – auf kärgliche 90.000. Der Gedanke der Landesverteidigung wurde zugunsten einer kleinen Truppe für den Auslandseinsatz nahezu fallen gelassen und das Territorialheer aufgelöst – denn man wähnte sich nur von Freunden umgeben.

Die Krim-Krise zeigt jedoch in beunruhigender Weise, dass die Sicherheit auf unserem Kontinent keineswegs in Erz gegossen ist. Es gilt nun, neu nachzudenken. Der Belgrader Diktator Slobodan Milosevic und seine Vasallen in Bosnien vermochten mit ihrem großserbischen Wüten in den 90er-Jahren einen Krieg mit 200.000 Toten vom Zaun zu brechen; doch eine Bedrohung für ganz Europa war dies nicht. Der großrussische Kurs Putins ist von ganz anderem Kaliber. Falls er nun auch nach der Ostukraine greifen sollte, wäre ein neuer Kalter Krieg kaum noch abzuwenden. Es ist wichtig, mit Putin im möglichst deeskalierenden Gespräch zu bleiben. Und dennoch sollte man sich darüber im Klaren sein, für welche Werte und Prinzipien die EU und, ja, auch die Nato stehen.

Manche Stimme fordert nun „Neutralität“ in Bezug auf Russland. Ein Hannoveraner Politikwissenschaftler warf deutschen Medien im Internet gar „Hetze“ und eine „Anti-Putin-Hysterie“ vor, die an „Symptome einer kollektiven neurotischen Störung“ erinnere. Viele Journalisten seien euro-atlantisch orientiert. Ja, was denn sonst?! Bei aller berechtigter Kritik an den USA und dem EU-Moloch sind beide doch gekennzeichnet von freier Presse und freier Wirtschaft, Rechtssicherheit sowie von funktionierenden, pluralistischen Zivilgesellschaften. Von alldem kann in Russland keine Rede sein. Zum Jahresende hatte Putin die russischen Staatsmedien wie RIA Nowosti aufgelöst und durch den neuen Giganten Rossija Segodnja (Russland Heute) ersetzt. Dessen Chef ist Dmitri Kisseljow, ein Putin-Vasall, der diesen als neuen Stalin lobt und zum Beispiel mit der Forderung zitiert wird, bei einem Autounfall sollte man verunglückten Homosexuellen die Herzen herausschneiden und verbrennen, weil sie nicht zur Organspende taugten. Hat da jemand allen Ernstes nach Neutralität gerufen?