Timoschenko, Klitschko und vielleicht auch Putin. Wie ein aufgeriebener Knorpel in der Wirbelsäule das Leben auf den Kopf stellt

Das Bild war fast anrührend: Die gerade erst von einem Beckenringbruch genesene Angela Merkel lädt die rückengeplagte Julia Timoschenko ein, sich in Berlin endlich behandeln zu lassen. Seit zwei Jahren litt die ukrainische Oppositionelle in der Haft an den Folgen eines schweren Bandscheibenvorfalls. Julia Timoschenkos Bandscheibe ist in Deutschland fast zum Synonym für die Lage der Ukraine geworden – ein zwischen zwei Fronten aufgeriebener Knorpel, der permanent unter Druck steht und die Bewegungsfreiheit eines ganzen Landes lähmt.

Schon deshalb ist ihr das Mitgefühl von Millionen sicher – der Bandscheibenvorfall ist heute eine Volkskrankheit. Ob es nun Sinn macht, dass Timoschenko schon wieder die politische Führung in der Ukraine anstrebt, ist ein anderes Thema. Letztlich hatte das Versagen der ehemaligen Regierungschefin erst dazu geführt, dass ein Mann wie Janukowitsch Präsident werden konnte. Für viele Ukrainer ist Timoschenko daher keine Wunschkandidatin. Aber auch das ist ja typisch für viele Bandscheibenpatienten: der Ehrgeiz, trotzdem mit durchgedrücktem Kreuz durch die Wand zu gehen, statt sich in Geduld und Elastizität zu üben. Beispiele gibt es zuhauf.

Den schweizerischen FDP-Chef Philipp Müller zum Beispiel, den es im Oktober nach nur drei Wochen Auszeit schon wieder auf die Bühne der Politik trieb. Der kann sich schon mal sein Wärmepflaster zurechtlegen, werden erfahrene Bandscheibenpatienten sagen – drei Wochen Erholung reichen einer aufgebrachten Bandscheibe in der Regel nicht. Bandscheiben kennen keine Unterschiede: Den deutschen Liberalen Philipp Rösler zwang die Bandscheibe in die Knie, als er ausgerechnet Gesundheitsminister unter SchwarzGelb war. Den Münchner Erzbischof Reinhard Kardinal Marx erwischte es ebenso wie Norwegens Kronprinzessin Mette-Marit, die drei Wochen krankgeschrieben war und keine Kindergärten einweihen konnte. Womit haben die sich überlastet?

Das ist ja immer die Kernfrage. Wenn die Bandscheibe – gern im Lendenwirbelbereich – sich zwischen zwei Wirbelknochen herausschiebt und auf den Nerv drückt, ist das schon kein Frühwarnsystem mehr, sondern ein ausgewachsener Volleystopp des Körpers. Ambitionierte, kopfbestimmte Menschen reden sich die ersten Signale der Überlastung gerne schön und glauben wie Julia Timoschenko an „eiserne Willensstärke“. So lange, bis der Rücken mit hinterhältigen psychosomatischen Tricks eine Vollbremsung macht. Dann ist selbst mit Spritzen und Tabletten nichts mehr auszurichten – Termine müssen abgesagt, Reisen verschoben, Wahlkämpfe abgebrochen werden, auch wenn die Konsequenzen bitter sind.

Der Sänger Eric Clapton, 68, musste 2013 nach einem Bandscheibenvorfall sein einziges und schon ausverkauftes Österreichkonzert absagen. Den Olympia-Zweiten Timo Boll, erfolgreichster deutscher Tischtennisspieler aller Zeiten, kostete die Bandscheibe zwei Weltmeisterschaften. Springreiterlegende Alwin Schockemöhle musste nach jahrelangen Bandscheibenschmerzen die Karriere aufgeben und schrieb ein Buch über Rückenleiden. Für Schwimmweltmeisterin Franziska von Almsick fiel wegen ihrer Bandscheibe 2001 die gesamte Saison aus. Sogar der „Hackl Schorsch“, Urgestein der Rennrodler, schädigte die Bandscheiben seiner Halswirbelsäule auf dem Rennschlitten so sehr, dass er sich operieren lassen musste. Mehmet Scholl, Lukas Podolski, Oliver Kahn – alle erfahrene Bandscheibenpatienten.

Auch Vitali Klitschko musste wegen einer Bandscheiben-OP mehrmals Kämpfe absagen und in der Reha wieder den aufrechten Gang lernen. Mit dem Boxweltmeister hat die Ukraine jetzt schon den zweiten Oppositionsführer mit einschlägigen Erfahrungen. Ist das ein Zeichen der Hoffnung? Es heißt ja immer: „Krankheit als Weg“.

Womöglich hat sogar Russlands Obermacho Wladimir Putin längst zerbröselnde Bandscheiben und verheimlicht sie nur, aus Gründen der Image-Wahrung. Er sieht allerdings eher nach Magenleiden aus.