Im Gedenkjahr 2014 lebt die alte Debatte darüber wieder auf, ob Deutschland im Alleingang den Ersten Weltkrieg verursacht hat

Gleich zu Beginn des Gedenkjahres 2014, in dem sich die Menschheit an den Ausbruch des Ersten Weltkrieges vor 100 Jahren erinnert, blüht eine lebhafte Diskussion über die Kriegsschuld neu auf. In der Regel bemüht man sich im Lichte neuer Forschungen um Objektivität. Ein besonders krasses Beispiel an Einseitigkeit hingegen lieferte jüngst die ohnehin nicht für ausgeprägte Deutschfreundlichkeit bekannte Londoner Zeitung „The Daily Telegraph“. Das Blatt ließ einen der prominentesten britischen Politiker zu diesem Thema schreiben: den Bürgermeister von London, Boris Johnson.

Der Konservative ereiferte sich über geschichtliche „Unehrlichkeit“ am Beispiel des Sprechers der Labour-Partei, Tristram Hunt. Der Abgeordnete und renommierte Historiker hatte es gewagt, die in Großbritannien immer noch beliebte Ansicht, ein „kriegstreiberisches und von imperialer Aggression“ getriebenes Deutschland habe den Ersten Weltkrieg praktisch im Alleingang verursacht, als „haarsträubend“ zu verwerfen. Johnson schreibt, Hunts Analyse verdiene „den Nobelpreis für Schund“ und sei eine „lächerliche Freisprechung“ von Kaiser Wilhelm II. und seiner Generäle. „Es war Deutschland, das Österreich zum Krieg gegen Serbien trieb“, behauptet der Tory-Politiker.

Das ist allerdings eine sehr interessante Sicht der Dinge. Sie erinnert an die Fischer-Kontroverse der 60er-Jahre in Deutschland, als der Hamburger Historiker Fritz Fischer die Haltung vertrat, Deutschlands „Griff nach der Weltmacht“ habe den entsetzlichen Krieg mit seinen bis zu 15 Millionen Toten verschuldet. Dieses historische Urteil gilt heute allerdings als überholt.

Tatsache ist, dass die Führung der Vielvölker-Monarchie Österreich-Ungarn seit Langem auf eine Gelegenheit wartete, den separatistischen Serben eine Lektion zu erteilen. Frankreich wiederum sann auf eine Revanche für die demütigende Niederlage im Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71 und wollte Elsass-Lothringen zurück, Russland hatte eigene expansive Ziele in Osteuropa, und Großbritanniens Agenda war es, eine kontinentale Vormacht Deutschlands zu verhindern. Alle europäischen Großmächte rüsteten gewaltig auf, ein Krieg galt als „unvermeidlich“.

Richtig ist, dass Kaiser „Willy der Plötzliche“ mit seinem sprunghaften Charakter, seiner Überheblichkeit und verbalen Kraftmeierei Deutschland isolierte und die Krise anheizte. Richtig ist auch, dass er einen gefährlichen Militarismus mitsamt unerträglichem Untertanengeist heranzüchtete, der die gesamte deutsche Gesellschaft durchdrang. Doch dass er 1914 planvoll einen Krieg anstrebte, stimmt einfach nicht. Wilhelm hatte sogar zwei Jahre zuvor geradezu prophetisch davor gewarnt, sich von Österreich in eine europäische Kriegskatastrophe ziehen zu lassen.

Das tödliche Attentat auf den österreichischen Thronfolger Franz Ferdinand und seine Frau in Sarajevo – geplant von der serbischen Terrorgruppe „Schwarze Hand“ und ausgeführt von dem 19-jährigen bosnischen Serben Gavrilo Princip, Mitglied der Revolutionsgruppe „Junges Bosnien“ – wurde von Kriegstreibern in Wien, allen voran Außenminister Leopold Graf Berchtold und Generalstabschef Franz Freiherr Conrad von Hötzendorf, dazu genutzt, den Serben ein überhartes Ultimatum zu stellen. Doch bis auf eine wollte Serbien sogar alle Bedingungen erfüllen – und Wilhelm II. vertrat später die Ansicht, dies hätte eine deutsche Mobilmachung gar nicht mehr erfordert. Aber auch er war dafür, mit den Serben „aufzuräumen“; Franz Ferdinand war sein Freund gewesen. Sein historischer Fehler war es, schnell am Kaffeetisch ohne Absprache mit Kanzler Theobald von Bethmann Hollweg auf Drängen der Österreicher die berüchtigte „Blankovollmacht“ für eine mögliche militärische Unterstützung Wiens auszustellen.

Der Kaiser und seine Generäle glaubten nicht, dass Russland für Serbien in den Krieg ziehen würde. Doch genau das geschah. Und selbst, als schon Millionen Soldaten in der maschinenhaften „Blutmühle“ zerrissen worden waren, brachte keine Führung die Kraft dazu auf, das Massensterben zu beenden. Der Erste Weltkrieg wurde auch durch schwere Fehleinschätzungen der deutschen Führung ausgelöst. Die Alleinschuldbehauptung allerdings – die für den Zweiten Weltkrieg zutrifft – ist eine interessengeleitete Mär.

Abendblatt-Chefautor Thomas Frankenfeld greift an dieser Stelle jeden Donnerstag ein aktuelles Thema auf