Die Sozialdemokraten müssen dringend ihr Selbstverständnis als Partei klären

Es war schon ein sehr selbstbewusster, souveräner Auftritt des SPD-Parteivorsitzenden Sigmar Gabriel, dessen Rede gerade so viel Selbstkritik und -ironie enthielt, dass er nicht arrogant wirkte. Gabriel und auch Bürgermeister Olaf Scholz zeigten sich auf der Regionalkonferenz in Hamburg sehr sicher, dass die Parteimitglieder dem Koalitionsvertrag mit der Union zustimmen werden.

Hamburg war dabei ein absehbares Heimspiel für Gabriel. Scholz hatte zu den ersten Top-Genossen gezählt, die sich für Verhandlungen und letztlich ein Bündnis mit CDU und CSU ausgesprochen haben. Da fuhr der politische Zug der nordrhein-westfälischen Ministerpräsidentin Hannelore Kraft, wie Scholz stellvertretende Parteivorsitzende, noch in die entgegengesetzte Richtung.

Auch wenn es beim Basis-Talk etliche kritische Einzelstimmen gab: Die schweigende, aber Beifall spendende Mehrheit war eindeutig aufseiten der Koalitionsbefürworter Gabriel und Scholz. Ob aus Überzeugung oder Disziplin, muss dahingestellt bleiben. Allerdings: Bei bedeutenden Aufmüpfigkeiten gegenüber ihrem Landeschef und Bürgermeister sind die Hamburger Sozialdemokraten noch nicht ertappt worden.

Es ist viel über das Für und Wider, über Sinn und Unsinn der Mitgliederbefragung sowie die möglicherweise dahinterliegenden taktischen Winkelzüge diskutiert worden. Lassen wir diese Erörterungen und allen Streit über die einzelnen inhaltlichen Punkte des Koalitionsvertrags einmal beiseite, dann bietet sich den SPD-Mitgliedern eine verblüffende Chance: Sie dürfen, in Wahrheit jedoch müssen sie über das grundsätzliche politische Selbstverständnis, ja, über den Charakter der SPD als Partei entscheiden.

Das ist, noch dazu an einer Nahtstelle der politischen Entwicklung nach einer Bundestagswahl, ein Privileg, das den Mitgliedern der Koalitionsparteien in spe, CDU und CSU, vorenthalten bleibt.

Wahr ist, dass die Sozialdemokraten diese Selbstvergewisserung dringend nötig haben. Die SPD ist eine mit sich selbst hadernde Partei – zu Recht. Bei den zwei jüngsten Bundestagswahlen hat die Partei Willy Brandts und Helmut Schmidts ihre beiden schlechtesten Ergebnisse seit 1949 eingefahren. Übrigens aus unterschiedlichen Konstellationen: 2009 aus der Großen Koalition heraus, jetzt aus der Opposition. Die Bündnisfrage scheint also nicht das entscheidende Kriterium für den Wahlerfolg zu sein. Und: Der Abstand zur Union ist so groß wie zuletzt 1957. Damals war ein gewisser Konrad Adenauer Kanzler.

Ein dritter Punkt kommt hinzu: Die SPD erhält in Umfragen für ihre zentralen inhaltlichen Forderungen – Mindestlohn, Steuererhöhungen für Besserverdienende – zwar satte Mehrheiten, aber die zahlen sich bei Wahlen nicht in Stimmen aus.

Vielleicht ist es menschlich verständlich, wenn sich Sozialdemokraten angesichts der tristen Realität wünschen, ihre Vorturner würden sich ins Schneckenhaus der Opposition zurückziehen und sich nicht die Hände in einer ungeliebten Koalition schmutzig machen.

Tatsächlich würde dieser Weg dem Charakter der Sozialdemokratie, ihrem jahrzehntelang gepflegten Selbstverständnis jedoch widersprechen. Diese Partei hat schon häufig Verantwortung übernommen, wenn es nötig war. Die Agenda 2010 des bislang letzten SPD-Kanzlers Gerhard Schröder ist nur ein besonders bekanntes Beispiel für diese Haltung. Und die SPD stand immer für eine Politik der Kompromisse, wie sie in Koalitionen unerlässlich sind, und der vielen kleinen Schritte zum größeren Ziel hin.

Die Agenda-Politik hat die Partei an den Rand der Spaltung getrieben, aber es ging auch um eine dramatische Kurskorrektur in einem SPD-Kernbereich: der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik. Vergleichbare Abgründe sind im aktuellen Koalitionsvertrag mit der Union nicht erkennbar.

Der Autor leitet das Ressort Landespolitik des Abendblatts