In der Türkei wird die Wehrpflicht aufgeweicht, die Armee verliert ihre staatstragende Rolle. Und Premier Erdogan zementiert seine Macht

Während des Kalten Krieges kam der Türkei sicherheitspolitisch eine besondere Bedeutung zu, da sie den „weichen Unterbauch“ der Nato im Südosten des Allianzgebiets schützen sollte. Auch in jüngster Zeit steht das türkische Militär wieder im Fokus, da das Land an das Bürgerkriegsland Syrien grenzt, mit dem die Türkei nicht gerade befreundet ist, um es milde auszudrücken – und zugleich an den Irak, dessen innenpolitische Sicherheitslage immer dramatischer wird, ferner an den unruhigen Balkan sowie den schwelenden Kaukasus. Hinzu kommt die alte Feindschaft mit Nachbar Griechenland.

Aus diesen geostrategischen Gründen hat die Türkei stets ein sehr großes Militär unterhalten. Während die Staaten Europas nach dem Ende des Kalten Krieges massiv abrüsteten, hat Ankara dies nicht getan. Zum Vergleich: Die Bundesrepublik Deutschland unterhielt vor 1989 aktive Streitkräfte in einer Größenordnung von knapp 500.000 Mann. Heute sind es knapp 200.000; und die Zahl wird auf 185.000 sinken. Die Türkei unterhält mit 720.000 Mann inklusive der Gendarmerie das zweitgrößte Militär in der Nato nach den USA. Das türkische Heer besitzt rund 4200, zum Teil allerdings stark veraltete Kampfpanzer. Die Bundeswehr, die einst eine ähnlich eindrucksvolle Panzerstärke aufwies, verfügt heute noch über gut 220 aktive Panzer, und deren Zahl soll noch weiter sinken.

Anders als im Fall europäischer Staaten hat die türkische Armee allerdings auch immer eine wichtige innenpolitische Funktion wahrgenommen: Sie galt als Garant und Verteidiger der kemalistischen Staatsordnung. 1960, 1971 und noch einmal 1980 putschten türkische Generäle, um – wie Generalstabschef Kenan Evren, der danach Staatspräsident wurde, 1980 sagte – „zu den Quellen des Kemalismus“ zurückzukehren, also zur Ordnung des Staatsgründers Mustafa Kemal, genannt „Atatürk“ (Vater der Türken).

Kritik an den Streitkräften kann strafrechtlich verfolgt werden. Doch die Zeiten haben sich mit der Ära von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan und seiner gemäßigt islamistischen Partei AKP gründlich geändert. Erdogan, der moderne „Sultan“, will sicherstellen, dass seiner Regierung – die die Türkei wirtschaftlich zwar mit erheblichem Erfolg modernisiert, gesellschaftlich aber ein Stück weit Richtung islamischer Republik führt – nie wieder Gefahr von der kemalistisch eingestellten Armee drohen kann. Erdogan geht rigoros gegen Offiziere vor, die seinem Kurs Widerstand entgegensetzen. Sogar der einst übermächtige Kenan Evren, inzwischen fast 96 Jahre alt, wurde 2012 wegen des blutigen Putsches von 1980 vor Gericht gestellt. Auch andere Generale sitzen in Haft. Die Macht der alten Garde scheint gebrochen.

Nun steht dem türkischen Militär eine Zeitenwende bevor, die unter anderem auch ideologische Gründe hat. Der in Artikel 72 der türkischen Verfassung verankerte „Vaterlandsdienst“ soll aufgeweicht werden. Der Militärdienst betrug bis 2003 noch 18 Monate, danach 15 Monate und soll nun auf zwölf Monate sinken; für Hochschulabsolventen auf nur sechs Monate. Über 30-Jährige können sich vom Wehrdienst freikaufen, für umgerechnet rund 12.000 Euro. Der Freikauf ist für die Regierung in Ankara zu einer lukrativen Einkommensquelle geworden.

Die Veränderung der Wehrpflicht ab Januar, die als Einstieg in eine kleinere Berufsarmee gilt, wird das türkische Militär nach einer Einschätzung des privaten US-Geheimdienstes Stratfor zunächst um 70.000 Mann schrumpfen lassen. Wehrpflichtige machen bislang rund 500.000 Mann aus; doch diese Struktur kann angesichts immer höherer technischer und taktischer Anforderungen nicht aufrechterhalten werden. Auch die türkische Armee soll weitgehend in eine kleinere Streitmacht aus hoch professionellen Soldaten umgewandelt werden. Dieser Prozess kann, wie die Beispiele früherer Warschauer-Pakt-Staaten zeigen, die heute Mitglieder der Nato sind, Jahrzehnte in Anspruch nehmen. Und billiger werden Berufsarmeen in der Regel nicht. Doch die Verkleinerung ist auch Indiz dafür, dass die türkische Armee ihren staatstragenden Charakter verloren hat, den sie über Jahrzehnte innehatte. Erdogan stellt sich offenbar vor, diese Funktion unter islamischen Vorzeichen seiner AKP zu übertragen.

Abendblatt-Chefautor Thomas Frankenfeld greift an dieser Stelle jeden Donnerstag ein aktuelles Thema auf