Landessozialgericht gibt Klage einer rumänischen Familie auf Hartz IV statt. Vom „Sozialtourismus“ und dem Geschäft der Schleuser

Die Reaktion des Bundesinnenministers war deutlich: Er befürchtet aus armen EU-Ländern eine verstärkte Einwanderung von Menschen, die deutsche Sozialleistungen nutzen wollen. Er reagierte damit auf ein Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen. Es ging um eine rumänische Familie, die 2009 nach Deutschland gekommen war. Nachdem die Eltern über ein Jahr als arbeitsuchend gemeldet waren, beantragten sie 2010 Arbeitslosengeld II. In der Umgangssprache heißt dieses Hartz IV.

Das zuständige Jobcenter – früher sagte man Arbeitsamt – lehnte ab. Die Familie klagte vor dem Sozialgericht. Das gab dem Jobcenter recht. Die Familie zog vor das Landessozialgericht. Das gab nun der Klage statt. Wer hat recht?

Hier führen zwei Gesetze, die sich eigentlich ergänzen sollen, zu einer Rechtslage, die der deutsche Gesetzgeber ganz sicher nicht gewollt hat: Im Freizügigkeitsgesetz steht, dass drei Gruppen von EU-Ausländern samt ihren Familienangehörigen in Deutschland Aufenthaltsrecht besitzen: erstens krankenversicherte Reiche, zweitens in Deutschland tätige Arbeitnehmer und Selbstständige, drittens EU-Bürger auf Arbeitsuche in Deutschland.

Im Zweiten Sozialgesetzbuch steht unter Paragraf 7: EU-Bürger, die in Deutschland „allein aus dem Zweck der Arbeitsuche“ Aufenthaltsrecht genießen, und ihre Familienangehörigen erhalten kein Hartz IV. Diese Vorschrift zielt auf die dritte Gruppe im Freizügigkeitsgesetz. Der deutsche Gesetzgeber sagte sich: Reiche Ausländer sowie sozialversicherte Arbeitnehmer und Selbstständige werden das deutsche Sozialsystem nicht missbrauchen. Aber Arbeitslose aus armen EU-Ländern? Man wollte „Sozialtourismus“ verhindern, indem man festlegte: EU-Bürger dürfen zwar in Deutschland eine Stelle suchen, aber sie erhalten in dieser Zeit kein Hartz IV.

Jobcenter und Sozialgericht begründeten ihre Ablehnung des Hartz-IV-Antrags mit Paragraf 7. Das Landessozialgericht hingegen urteilte: Paragraf 7 verweigere zwar arbeitsuchenden EU-Bürgern Hartz IV. Die Arbeitssuche der Kläger sei aber über ein Jahr erfolglos gewesen und auch in Zukunft nicht Erfolg versprechend. Daher dürfe man von einem Aufenthaltsrecht zum „Zweck der Arbeitsuche“ nicht mehr ausgehen. Folglich sei Paragraf 7 gar nicht mehr anwendbar. Und deshalb hätten die Kläger, solange sie nicht ausgewiesen werden, Anspruch auf HartzIV.

Schon werden Stimmen laut, dies sei letztlich ein ausländerfeindliches Urteil. Denn es werde die deutschen Behörden veranlassen, EU-Ausländer auf Arbeitsuche auszuweisen, bevor sie ein Jahr lang vergeblich nach Arbeit gesucht haben.

Doch dieser Schluss ist verfehlt. Kürzlich berichtete die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ über professionelle Schleuser, die in Rumänien und Bulgarien armen, aber kinderreichen Roma-Familien ein „Leistungspaket“ anbieten: Als Touristen werden sie nach Deutschland gebracht. Hier angekommen, wird ihnen geholfen, sich als Selbstständiger anzumelden, zum Beispiel als „Abrissunternehmer“ oder als „Public-Relations-Assistent“, der Werbezettel verteilt oder Straßenzeitungen verkauft. Der so registrierte Selbstständige genießt – dank Freizügigkeitsgesetz (siehe oben) – samt Familie Aufenthaltsrecht in Deutschland. Als Selbstständiger hat er außerdem Anspruch auf Kindergeld von monatlich 154 Euro pro Kind.

Das Urteil dürfte, wenn es rechtskräftig wird, dieses Geschäft der Schleuser deutlich beleben. Denn dann können sie mit einem noch viel attraktiveren Modell werben: Der Ehemann erwirbt als Selbstständiger für sich und seine Familie das Aufenthaltsrecht und bezieht Kindergeld. Seine Ehefrau meldet sich als Arbeitsuchende. Wenn sie innerhalb eines Jahres nicht vermittelt wird, verliert sie zwar ihr Aufenthaltsrecht als Arbeitsuchende, behält aber ihr Aufenthaltsrecht als Ehefrau eines Selbstständigen. Und in dieser Funktion hat sie – dank Urteil – neben dem Kindergeld auch Anspruch auf Hartz IV. Dieses Modell dürfte sich in den armen EU-Ländern rasch herumsprechen.

Die Situation ist verfahren: Die europäische Integration verlangt Freizügigkeit für EU-Bürger. Wer will es einer armen Familie in Südosteuropa verdenken, dass sie diese Freizügigkeit nutzt und nach einem besseren Leben in Deutschland strebt? Und wer will es einem deutschen Arbeitnehmer verdenken, dass er das nicht mit seinen Steuern finanzieren will? Das Dilemma ist unlösbar, solange das extreme Wohlstandsgefälle in der EU besteht.