Sieben Prozent der Kinder haben eine Rechenschwäche. Und leider helfen weder Opas Nachhilfe noch Bildchen aus Vorschulbüchern

Alarmrufe über Bildungsmängel gehören fast schon zur wöchentlichen Grundbeschallung. Von der „Generation doof“ über PISA bis zum „Notstand Rechtschreibung“: Man könnte das Fürchten kriegen. Azubis scheitern in Betrieben schon an elementaren Aufgaben, laut der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit (OECD) kann Deutschland nicht genug Akademiker ausbilden, die jüngste PIAAC-Studie bescheinigt auch den 16- bis 65-jährigen Deutschen einen Mangel an Schlüsselkompetenzen.

Gerade in Mathematik schwächeln wir: Sieben Prozent unserer Kinder und Jugendlichen sollen eine Rechenschwäche haben. Irgendwas bei der Vermittlung von Zahlensystemen und ihrer Logik läuft demnach falsch.

Von der sogenannten Dyskalkulie sind keineswegs nur Kinder mit Lernbehinderungen oder schwierigem sozialen Umfeld betroffen, sondern auch normal intelligente Kinder. Sie haben oft einen entscheidenden Schritt nicht verstanden: den vom Zählen zum Rechnen. „Rechenschwäche ist kein fehlendes Denken, sondern ein falsches Denken über Zahlen“, schreibt Jörg Kwapis, einer der Leiter des Zentrums zur Therapie der Rechenschwäche (ZTR) in Potsdam. Erst allmählich wurden Erklärungen gefunden. Man kann natürlich fragen, warum erst so spät – Klagen über zu wenig Mathe-Didaktik im Lehrerstudium gibt es seit den 80er-Jahren.

Wichtiger ist, dass Dyskalkulie allgemeinverständlich beschrieben wird, sodass auch Eltern, Großeltern und andere Mathe-Laien ihr Entstehen nachvollziehen können. Denn die werden oft zu einem Teil des Problems, wenn sie bei den Schulaufgaben helfen und gar nicht begreifen, wieso das Kind in der dritten Klasse „12+8“ nicht lösen kann, geschweige denn „12-8“.

Zählen können viele Kinder schon, wenn sie in die Schule kommen. Sie benutzen ihre Finger oder kennen Bilder aus Vorschulbüchern, in denen fünf Hühner oder Birnen durch fünf Hühner- oder Birnenbilder dargestellt sind. Das ist eine einfache Visualisierung von Fünf. Den ersten Schritt zu einem umfassenderen Zahlenverständnis macht das Kind aber erst, wenn es eine Ziffer wie 5 als Symbol für fünf Einheiten begreift. Dazu kommt die Erkenntnis, dass der Nachfolger der 5 immer eins mehr ist, dass die 5 in der nachfolgenden 6 enthalten ist, dass man Zahlen in Teilmengen zerlegen kann und sich der Wert der 5 folglich in vielen Kombinationen darstellen lässt: 5 = 4+1 oder 3+2 oder 7-2.

Oft gelingt die Ablösung vom visuell gestützten Zählen aber nicht. Eine Zeit lang kaschieren die Kinder das Problem, viele zimmern sich eine eigene Rechenlogik zurecht. Die funktioniert nicht. Folge: Sie meiden Zahlen oder Zahlenspiele, schätzen Entfernungen, Uhrzeiten und Maßeinheiten falsch ein, lesen, schreiben und merken sich Zahlen falsch.

Wie unglücklich es abläuft, wenn Mutter oder Opa bei den Aufgaben helfen, schildert der Aufsatz „Ein Nachmittag im Leben eines rechenschwachen Kindes“ (www.ztr-rechenschwaeche.de/files/artikel_nachmittag_im_leben. pdf), der für viele Erwachsene ein Aha-Erlebnis sein dürfte. Für das Kind wird Rechnen zur Tortur. Es kann nicht mal ausdrücken, was es nicht kann. Und wenn die Eltern sagen „Hör doch mal auf, deine Finger zu benutzen“, verbieten sie das einzige Hilfsmittel, das dem Kind zur Verfügung steht.

Zum Glück gibt es inzwischen ein bundesweites Netzwerk fachtherapeutischer Hilfen, in Hamburg etwa das Institut für mathematisches Lernen (IML). Bei der Therapie ergründen Fachleute zum Beispiel, welche Gedanken sich die Kinder bei ihren Berechnungen machen, wo sie aus der Logik der Rechenoperationen aussteigen.

Man möchte sich gar nicht vorstellen, wie viele frustrierte Zahlenverweigerer – Kinder wie Erwachsene – es gibt. Und zu wie vielen falsch kalkulierten Staatsvorhaben und Betriebsausgaben das bisher schon geführt hat. Dabei sind unsere Gehirne zu einem komplexen Zahlenverständnis ebenso gut in der Lage wie zum Denken in fremden Vokabeln.

Es klingt absurd, aber: Ein Grund der Rechenschwäche ist, dass Kinder zu lange mit zu vielen Hühner- und Birnenbildern „angeregt“ werden. Gut gemeint, aber zum Rechnen genau der falsche Weg.

Irene Jung schreibt an dieser Stelle jeden Mittwoch über Aufregendes und Abgründiges im Alltag