Die Flüchtlinge sind da, und viele Menschen in der Stadt helfen. Warum für uns Hamburger soziales Engagement so wichtig ist

Vielleicht ist der Knoten ja geplatzt, vielleicht hat sich in der Stadt die Stimmung geändert: Anwohner eines Parkplatzes in Lokstedt wurden darüber informiert, dass der Platz jetzt anders genutzt wird. Dass dort demnächst statt Autos Container für Flüchtlinge stehen würden. Und statt zu protestieren, haben sich viele Anwohner gefreut. Gefreut!

Ich hatte erwartet, dass das Treffen so ablaufen würde wie derartige Treffen in anderen Stadtteilen zuvor: Aufstand der Anwohner – manchmal zu Recht, weil der Stadtteil schon eine zu große soziale Last trägt, das Ganze aber verbunden mit viel Ablehnung und Aggressivität.

Seit Monaten geht das schon so: Fast überall scheiterten die Pläne, Unterkünfte für Flüchtlinge und Wohnungslose zu eröffnen, am Widerstand der Nachbarn. Und diese Bilder von wütenden Bürgern prägten die Bilder in den Medien; vielleicht stachelten sie sogar andere an, ebenfalls Unterkünfte in ihrer Nähe zu verhindern.

Hätte man mich zu den Hoch-Zeiten dieses „Bürgeraufbegehrens“ gefragt, ob die Hamburger sozial engagiert sind, dann wäre mir eine Antwort schwergefallen. Denn wir erleben tagtäglich viel Solidarität und Mitgefühl mit Hinz&Künztlern. Nur: Obdachlose und Flüchtlinge müssen natürlich auch irgendwo wohnen …

Mein Kollege, der über das Treffen in Lokstedt berichten sollte und schon einige Treffen dieser Art besucht hat, war völlig überrascht. „Viele Nachbarn haben gefragt, wie sie helfen können“, sagte er. Die Stimmung, sagte mein Kollege, sei richtig gut gewesen. Und schon an diesem Abend haben einige Anwohner angeboten, am runden Tisch teilzunehmen oder ehrenamtlich mitzuarbeiten. Die Nachbarn sind neugierig auf ihre neuen Mitbewohner. Und wir reden hier über Lokstedt, ein gutbürgerliches Viertel – nicht über St. Pauli, einen Szene-Stadtteil mit vielen jungen Leuten.

Die St. Pauli-Kirche beherbergt ja 80 Afrikaner, die berühmtesten Flüchtlinge, die wir je hatten. Pastor Sieghard Wilm hatte vor Monaten ein Zeichen gesetzt, als er die Menschen aufnahm, ohne so richtig zu wissen, wie er sie versorgen sollte. 80 junge Männer, die nach EU-Recht eigentlich in Italien leben müssten.

Aber Pastor Wilm sah die Not der Flüchtlinge, die einen langen Leidensweg von Libyen nach Lampedusa und dann nach Hamburg hinter sich haben. Und die nicht schon wieder verjagt werden wollen. Wilm und die Flüchtlinge hatten (und haben) die Fähigkeit, in Sankt Pauli eine ungeahnte Welle der Solidarität loszutreten. Dutzende von Menschen engagieren sich.

Wer einmal in seinem Kirchhof war, in der „Embassy of Hope“, der Botschaft der Hoffnung, der weiß, wie sich gelebte Nächstenliebe anfühlt: Ja, es ist anstrengend, sich um so viele Menschen in Not zu kümmern. Aber die Nachbarn, die da jetzt helfen, Deutschunterricht anbieten, Wäsche der Flüchtlinge mit nach Hause nehmen und waschen, die empfinden vor allem eins: Freude.

Garantiert fühlen die sich auch in ihrer Nachbarschaft noch heimischer als zuvor. Und garantiert werden sie diese Zeit in ihrem Leben nie vergessen.

Sich sozial zu engagieren ist keine Einbahnstraße, wo der eine nur gibt und der andere nur nimmt. Man lernt neue Menschen kennen, man kann die Beweggründe des anderen besser verstehen.

Und: Wer sich sozial engagiert oder wenigstens interessiert, verliert seine Angst und das Gefühl von Überforderung. Denn ein Teil der Aggressivität und der Ablehnung von Fremden, ein Teil der Wut gegen Veränderung ist genau das: schlicht und einfach Überforderung. Immer wieder sehen wir in den Nachrichten anonyme Flüchtlings-„Ströme“ – und haben dann Angst, dass diese uns „überschwemmen“. Und dies noch in unserer Nachbarschaft!

Aber wir Hamburger haben schon ganz andere Herausforderungen gewuppt: beispielsweise nach dem Jugoslawienkrieg in den 90er-Jahren. Damals beherbergten wir mehr als 20.000 Menschen, bislang sind es nicht mal 10.000. Und wenn wir die Flüchtlinge gut integrieren, wird das Ganze eine Situation, von der beide Seiten profitieren: Wir haben in vielen Branchen Personalmangel – und die Neu-Hamburger suchen Arbeit.

Birgit Müller, 57, war von 1989 bis 1993 beim Hamburger Abendblatt und ist heute Chefredakteurin von „Hinz & Kunzt"