Wladimir Putin hat sein Land zum Großmachtstatus zurückgeführt. Und Moskau sieht sich wieder als Gegner des Westens

Als sich am 25. April 1945 bei Torgau an der Elbe sowjetische und amerikanische Truppen trafen, war bereits abzusehen, dass die Waffenbrüderschaft der ungleichen Sieger über das NS-Regime bald in eine erbitterte Rivalität münden würde. Es sollten mehr als vier Jahrzehnte werden, in denen die ganze Welt vor der atomaren Apokalypse zitterte. Es gab mehrere äußerst bedrohliche Situationen in dieser Zeit – die Berlin-Krise mit dem Mauerbau 1961, die Kuba-Krise 1962. Am 26. 9. 1983 meldete das satellitengestützte sowjetische Frühwarnsystem der Atomraketenbasis Serpuchow-15 südlich von Moskau den Start von fünf amerikanischen Atomraketen. Der diensthabende Offizier, Oberst Stanislaw Petrow, hatte nur Sekunden für eine Entscheidung.

Wider alle Regularien untersagte er den Start des sowjetischen Vergeltungsschlages – der Ingenieur meinte, die USA würden kaum mit nur einer Handvoll Raketen angreifen. Nach kurzer Zeit kam Entwarnung: Ein Satellit hatte eine Fehlfunktion. Der heute fast vergessene Held hatte den Dritten Weltkrieg verhindert und nach Expertenschätzungen das Leben von rund 750 Millionen Menschen gerettet sowie 340 Millionen Verwundeten unsägliche Leiden erspart. Nicht auszudenken, wie unsere Welt heute aussehen würde, hätte ein hartköpfiger Militär an diesem Tag Dienst in Serpuchow-15 gehabt.

Die Sowjetunion zerbrach an ihren inneren Widersprüchen, an Misswirtschaft und Überdehnung. Der Sieg des Westens, vor allem der USA, die zur Hypermacht aufstiegen, war vollständig – während das sowjetische Imperium und mit ihm der Supermachtstatus zerfielen und der Nachfolgestaat Russland sich in mitleiderregendem Zustand präsentierte. Armee und Flotte sanken auf Drittwelt-Standard zurück. Es war nicht zuletzt die eklatante Schwäche Russlands, die die Neokonservativen in Washington dazu verleitete, die Kriege im Irak und in Afghanistan zu beginnen und sich eine Militärstrategie mit globalem Machtanspruch zu geben. Und noch immer gibt es viele Politiker in den USA, die in Russland weiterhin den großen Verlierer sehen. Doch dies ist eine gefährlich trügerische Sicht. Wladimir Putin mag alles andere als ein lupenreiner Demokrat sein, aber er hat sein Land von einem Wrack wieder zu einem ernst zu nehmenden Machtfaktor aufgebaut. Ermöglicht wurde dies vor allem durch straffe Führung und zeitweise enorme Gewinne aus dem Öl- und Gas-Geschäft. Russland ist heute bei beiden Energieformen der weltgrößte Produzent und genießt seit Jahren einen Handelsüberschuss.

Zwischen 2000 und 2008 wuchs die russische Wirtschaft mit durchschnittlich sieben Prozent, stürzte in der Finanzkrise 2009 ab und erholt sich seitdem wieder. Manche Experten glauben sogar, Russland werde Deutschland bis 2020 als Wirtschaftsmacht überholen. Seit Putins Amtsantritt im Jahre 2000 ist die russische Industrie um 75 Prozent gewachsen; die neue Mittelklasse schwoll von wenigen Millionen auf heute 55 Millionen Menschen an. Moskau weist inzwischen die höchste Dichte an Milliardären auf der Erde auf. Auch das alles erklärt, warum der im Westen wenig beliebte Putin bei vielen Russen immer noch sehr hohes Ansehen genießt. Das ehrgeizige Rüstungsprogramm des Präsidenten hat Russland wieder zur zweitstärksten Militärmacht der Erde gemacht, hinter den USA und vor China. Die russische Militärtechnologie stellt hochmoderne Waffensysteme zur Verfügung und hat in Teilbereichen bis zu den USA aufgeholt.

Das geschickte Taktieren des russischen Außenministers Sergej Lawrow, der blitzschnell eine unbedachte Bemerkung seines US-Kollegen John Kerry ausnutzte und mit dem Aushandeln eines Abkommen über Syriens Chemiewaffen die Rechtfertigung für eine amerikanische Militäraktion aushebelte, beförderte den Anspruch Moskaus enorm, im Nahen Osten wieder eine dominierende Rolle zu übernehmen.

Zwar wird im Kreml derzeit händeringend um einen strategischen Ersatz für die nicht mehr so reichen Einkünfte aus den Energiequellen gesucht; das Wirtschaftswachstum hat sich stark verlangsamt. Dennoch hat Amerika gut zwei Jahrzehnte nach dem Ende des Kalten Krieges in Russland wieder einen machtvollen Gegenspieler. Der russische Bär ist zurück – und er meldet seine globalen Ansprüche an.

Abendblatt-Chefautor Thomas Frankenfeld greift an dieser Stelle jeden Donnerstag ein aktuelles Thema auf