Wo, bitte, fängt ein Dorf an? Und wo hört sich alles auf? Die Posse von Winsen wird zum Lehrstück über Bürokraten-Aktionismus

Zu dem unerschöpflichen Thema Verkehrsschilder trägt Winsen (Kreis Segeberg) zurzeit ein eigenes Kapitel bei. An der Kreisstraße 49 von Kisdorf aus, die durch Maisfelder und Pferdewiesen führt, beginnt hinter hohen Hecken plötzlich das kleine Straßendorf mit 450 Einwohnern. Genau dort steht ein Schild, das weiter Tempo 70 erlaubt. Erst 150 Meter weiter vor einer großen Kreuzung steht die Ortstafel „Winsen“. Ab dort gilt Tempo 50.

Jedenfalls war das der Stand am Sonntag. Womöglich hat ein geheimnisvoller Unbekannter die Schilder aber inzwischen wieder umgestellt, sodass Winsen und Tempo 50 schon bei den Hecken beginnen.

So war es 54 Jahre lang gewesen, seit 1959. Im Mai verfügte die Verkehrsaufsicht des Kreises Segeberg zum Ärger der Winsener, dass die Schilder Richtung Kreuzung verlegt werden müssen: Sie seien sonst zu weit vom Ortskern entfernt.

Seither hat der große Unbekannte die Verkehrszeichen insgesamt 15-mal an ihren alten Platz zurückverfrachtet. Im Ort erntet er dafür Zuspruch, im Landratsamt hingegen kriegt man beim Namen „Winsen“ mittlerweile Pickel. Die neuen Schilderstandorte entsprächen nun mal „geltendem Recht“ und seien „fachaufsichtlich bestätigt“, heißt es. Die Landrätin will keinen Präzedenzfall schaffen, mehrere andere Bürgermeister stünden schon „Gewehr bei Fuß“, um ihre Ortstafeln ebenfalls weiter außerhalb aufzustellen. Geltendes Recht, das ist in diesem Fall die Verwaltungsvorschrift (VwV) für die Straßenverkehrsordnung, die auch den Einsatz von Orts- und Temposchildern regelt. Aber wie so oft ist das wahre Leben komplexer, als der Amtsschimmel gedacht hat. Ortstafeln wie „Winsen“ (Richtzeichen 310) müssen laut VwV dort stehen, wo „ungeachtet einzelner unbebauter Grundstücke die geschlossene Bebauung auf einer der beiden Seiten der Straße… erkennbar beginnt. Eine geschlossene Bebauung liegt vor, wenn die anliegenden Grundstücke von der Straße erschlossen werden.“ Nun hat gleich der erste Hof von Winsen eine erkennbare Ausfahrt zur Kreisstraße, die nachfolgenden Häuser bis zur Kreuzung haben keine.

Und nun? Warum soll nicht bei diesem Hof der Ort beginnen? Warum muss nun unbedingt noch 150 Meter weit Tempo 70 gelten?

Die Winsener sollten wissen: Sie sind nicht allein. Auch in Köln-Mülheim kam es nach Jahren zu einer überraschenden Ortstafelversetzung wegen angeblich nicht geschlossener Bebauung, ebenso in Wiarden im Landkreis Friesland. Dort liegt deshalb nun ein Neubaugebiet außerhalb des Orts, putzigerweise aber gilt nach wie vor Tempo 50. Wer bisher zu schnell fuhr und geblitzt wurde, fiel unter die innerortlichen Bußgeldvorgaben, künftig sind es die für die außerortlichen. „Wir sind uns bewusst, dass das aussieht wie ein Schildbürgerstreich“, räumte ein hellsichtiger Gemeindevertreter ein.

Das Einzige, was Winsen von Köln-Mülheim und Wiarden unterscheidet, ist der anonyme Schilderbeweger. Manche sprechen schon von einem modernen Robin Hood. Oder von einem Nachfahren des historischen Pferdehändlers Hans Kohlhase, der gegen bürokratisches Unrecht stritt (leider vergeblich) und in Heinrich von Kleists Novelle „Michael Kohlhaas“ unsterblich wurde.

Ja, natürlich soll die Straßenverkehrsordnung einheitlich angewendet werden. Aber für wen ist sie eigentlich da – für die Bürger, die vor Ort mit den Schildern leben? Oder sind die Bürger für die StVO da? Ist die Verkehrsaufsicht ein Paralleluniversum, das zur Not auch völlig ohne Bürger auskommt? Nach Jahren soll der Schilder-Aktionismus plötzlich die Sicherheit der Verkehrsteilnehmer gewährleisten – nur bitte ohne dass die mitreden?

Inzwischen sorgen die Schilderkriege zwischen Brombeerhecken, Ponyköteln und friesischen Gräben bundesweit für Erheiterung. Das Thema hätte Peer Steinbrücks Wahlkampf-Geheimwaffe werden können („Demokratie beginnt am Ortsanfang!“), Seehofers Pkw-Maut wäre dagegen fade abgeblitzt, und Robin Hood hätte bei Maybrit Illner aus Schildern Pflüge geschmolzen ... Schade, jetzt ist es zu spät.