Wenn ein falsches Komma uns zu Kannibalen macht. Von Hamburger Bildungsreformern und dem anarchischen Schreiben

Richtiges Deutsch ist der Wachtelkönig unter den Sprachen – man hört beide nur noch selten, ihr Zuhause ist die Rote Liste. Zumindest wird man den Eindruck nicht los, wenn Berufsjugendliche, Werber oder Politstrategen drauflosdichten: Ihr Hang zur englischen Sprache oder dem Kauderwelsch namens Denglisch ist so bekannt wie peinlich. Manche gehen mit unserer Sprache um, als sei sie eine in zufällige Ordnung gebrachte Buchstabensuppe.

Vermutlich kann man auch nur so erklären, wie die gefühlt 42. Generation der Hamburger Bildungsreformer auf die weltfremde Idee kommen konnte, Grundschüler lernten die Rechtschreibung am besten, wenn sie ohne Regeln einfach schreiben, was sie hören. Was Rechtschreibreformern nicht gelungen ist, führen Bildungsreformer nun durch die Hintertür ein: anarchisches Schreiben. Wohin das führt, beklagen in unschöner Regelmäßigkeit Lehrer und Professoren, Arbeitgeber und Eltern. In der Vergleichsstudie KESS von 2004 landeten die Hamburger Schüler dort, wo sie in Bildungsrankings ihren Stammplatz haben: knapp vor Bremen auf dem vorletzten Platz. Der Grundschulverband gibt auch frank und frei zu, an die Stelle von Rechtschreibung seien „inhaltliche Fragen und der sprachliche Ausdruck getreten“. Hübsche Idee. Nur stellt sich die Frage, ob Inhalt und Ausdruck ohne Orthografie denkbar sind.

Spitzen wir es mal zu: Rudimentäre Deutschkenntnisse schaden der Gesundheit und dem Geldbeutel: Ja, ein falsches Komma macht uns schnell zu Kannibalen. Der Ausruf „Wir essen Opa“ sollte jeden Großvater schocken, ein kleines Komma macht aus der Lebensgefahr eine Einladung.

Mitunter mache ich mir ernsthafte Sorgen, was aus Menschen werden soll, die mit der deutschen Sprache, Rechtschreibung und Zeichensetzung auf Kriegsfuß stehen – also aus der halben Jugend, wenn wir Kulturpessimisten glauben dürfen. Sie werden auf die Nepper, Schlepper und Bauernfänger im Internet hereinfallen, weil ihnen die Fehler gar nicht mehr auffallen. Längst schreiben auch Muttersprachler so, als hätten sie mit einer koreanischen Gebrauchsanweisung oder dem Microsoft-Übersetzer Deutsch gelernt.

Kürzlich hatte ich eine obskure Mail im Postfach, die das Dummdeutsch auf den Höhepunkt trieb. Es ging um anatomische Wundermittel für die Körpermitte, die auch sonst geradezu erstaunliche Wirkungen für das Sexualleben entfalten sollten. Um den Verkauf anzukurbeln, hatte der Verfasser ein paar Fragen formuliert, die das Übersetzungsprogramm offensichtlich überforderte. Da fragte doch der Absender zum Beispiel: „Jeder drückt die Freude des Geschlechtsverkehrs?“ Oder: „Groß genug für Ihre Genitalien?“ Aus dieser Perspektive hatte ich die Sache noch gar nicht betrachtet. Aber alle Zweifel räumt der Absender mit der rhetorischen Frage ab: „Er glaubt nicht, dass seine Ohren?“

Man muss gar nicht unter die Gürtellinie rutschen, um sich die Frage zu stellen, wie blöd man eigentlich sein muss, um diesen Lockangeboten zu erliegen. Oder wie schlecht gebildet.

Offenbar sind es viele. Denn so häufig wie ein Stau im Elbtunnel warnen Verbraucherschützer vor sogenannten Phishing-Mails, die mit richtigem Banklogo und falschem Deutsch um die Eingabe von Kontonummer und Geheimzahl bitten oder auf seltsame Seiten locken. Gerade der Umlaut, den einige Zeitgenossen als Kniefall vor der Globalisierung längst aus dem eigenen Namen tilgen, hat so manchen Muttersprachler vor einem wüsten Virus bewahrt. Oder wer drückt schon auf den Link, wenn angeblich die Deutsche Post dichtet: „Ein Fehler in der Leiferanschrift. Sie konnen Ihre Postsendung in unserer Postabteilung personlich kriegen." Entweder man kriegt die Krise oder hat sich den Computerabsturz redlich verdient. Rechtschreibkenntnisse schützen auch vor Enttäuschungen. Ein gewisser Brandon Elliott versprach mir kürzlich per Mail: „Sie haben als glückliche Person eines Pauschalbetrags von 1.500.000,00 ausgewählt worden.“ Auch den ganzen anderen vermeintlichen Nigerianern und Südafrikanern, die mir glorreiche Geschäfte vorschlagen, den libyschen Soldaten, die noch einen Schatz in Sirte verstecken, oder angeblichen Anwälte, die mit mir Erbschaften teilen möchten, rufe ich zu: Lernt gefälligst Deutsch. Bis dahin werde ich euer Kauderwelsch in den Papierkorb schieben.

Um noch einmal die freundliche Mail von oben zu zitieren: „Danke fur Ihr Verstandnis.“

Matthias Iken beleuchtet in der Kolumne „Hamburger KRITiken“ jeden Montag Hamburg und die Welt