Warum sich Rock-Veteranen wie die Stones immer noch ins Studio wagen – und Black Sabbath gerade in den Charts ganz oben steht

Neulich starrten mich vom Titelbild des „Rolling Stone“ die Gesichter von Mick, Keith, Charlie und Ron an, und ich erschrak: Ist jemand gestorben? Nein, im Gegenteil: Die Rolling Stones gehen nach sechs Jahren wieder mal auf Tournee. Die Ticketpreise – in den USA zwischen 150 und 2000 Dollar – zielen auf ein gleich altes, finanzkräftiges Publikum.

Nicht dass die Herren es nötig hätten: Ron Wood, 66, malt expressionistische Bilder; Jagger, 70, produziert Filme und versuchte sich mit der neuen Band „SuperHeavy“; Charlie Watts, 72, ist seit 2010 mit der neuen Band „The ABC&D of Boogie Woogie“ unterwegs, zu der auch Axel Zwingenberger gehört.

Keith Richards, 69, setzt seine Falten („so tief wie der Marianengraben“, schrieb ein Abendblatt-Kollege) als Darsteller in „Piraten der Karibik“ ein und hat vor drei Jahren seine Autobiografie veröffentlicht. „Manchmal sehe ich die Stones“, sagte er in einem Interview, „und denke: Diese Band ist kaputt – aber sie ist nicht unreparierbar.“ Dasselbe gilt für viele andere Veteranen. Die Rockmusiker der 70er, quasi die Trilobiten des ersten Pop-Ozeans, sind offenbar so unverwüstlich wie die Versteinerungen im Solnhofener Plattenkalk.

Crosby Stills & Nash, die Super Group des Jahres 1968, waren im Juni im Hamburger Stadtpark zu Gast wie drei Wochen vorher schon ihr ehemaliger Frontmann Neil Young, 68, mit seinen Crazy Horse. Auch Eric Burdon, 72, ist mit den „Animals“ auf Tour. Iggy Pop, 66, dessen Sehnen unter der Haut mich immer an Kabelstränge erinnern, trat am Dienstag mit der 1973er-Besetzung der „Stooges“ in Berlin auf. Die guten alten Fleetwood Mac kommen im Oktober im 36. Jubiläumsjahr ihres Erfolgsalbums „Rumours“ wieder nach Deutschland und nehmen offenbar einen der Titel wörtlich: „Don’t Stop“.

Sogar Tote beschicken noch den Musikmarkt: Im März erschien ein neues Album des seligen Jimi Hendrix – „People, Hell & Angels“, aufgenommen 1968. „Rock ’n’ Roll ist nicht tot, er riecht nur etwas streng“, schreibt der Musikjournalist Arne Willander.

Warum wälzen sich die alten Rock-Haudegen immer noch ins Studio und unterziehen sich trotz Krebstherapien und Herzschrittmachern anstrengenden Reisen, während es junge Bands so schwer haben? Die Frage klingt berechtigt, aber es ist die falsche Frage. Musikmachen ist alterslos, und überhaupt ist die Musikbranche eine der wenigen, in denen Arbeitnehmer heute wirklich noch jenseits der 50 Chancen haben. Liegt es also an der Retromania, wie manche glauben? Funktioniert Pop nur, indem jeder sich auf große Vorgänger bezieht?

Aus der Sicht von Fans sind das akademische Überlegungen. Für sie duftet der Rock ’n’ Roll noch genauso gut wie vor 40 oder 50 Jahren, als man beim Räucherstäbchenqualm Procul Harum auf den Plattenteller legte. Er duftet nach einer Mischung aus Freiheit und Frettchenstall wie beim legendären Open Air 1870 in Fehmarn, als Jimi Hendrix noch mal „Hey Joe“ spielte, bevor er zwölf Tage später in London starb. Oder nach einem Stadtparkkonzert im Regen oder nach einem Bühnenfeuerwerk in Scheeßel. Manche Fans schwärmen heute immer noch davon, wie sie dort 1973 beim allerersten Festival Ten Years After und Wishbone Ash hörten, um ihre Enkel mental auf Wacken oder das „Melt“-Festival vorzubereiten.

Kunst lebt von der Rückbesinnung. Wir beziehen uns immer wieder auf die alten Helden, weil wir in ihnen das eigene gelebte Leben sehen, die gemeinsame Geschichte, ein Lebensgefühl. „Rockmusik ist eine Nostalgie- und Verklärungsmaschine“, schreibt Arne Willander, „die uns eine ewige Gegenwart vorgaukelt und uns gleichzeitig brutal daran erinnert, dass die Einschläge näher kommen.“

Das Erinnerungsbedürfnis altert einfach mit. Deshalb bevölkern Rock-Fossilien auch die aktuellen Top 100 der deutschen Album-Charts: Black Sabbath stehen auf Platz sieben, die Bee Gees auf Platz 42, weiter hinten folgen Led Zeppelin, Deep Purple, Queen. Und natürlich die Rolling Stones, Platz 81, mit „Grrr!“.

Sie sehen nicht so gut aus wie Brian Ferry, finde ich. Aber das halten Stones-Fans wahrscheinlich für einen Fall von Altersverwirrung.

Irene Jung schreibt an dieser Stelle jeden Mittwoch über Aufregendes und Abgründiges im Alltag