Die Großschreibung erleichtert nicht nur das Lesen, sondern klärt auch den Unterschied zwischen genossener Liebe und lieben Genossen

Die ersten erhaltenen schriftlichen Zeugnisse der deutschen Sprache stammen aus dem 8. Jahrhundert. Für die Erfassung der vom Volk gesprochenen Wörter und Sätze mithilfe von Schriftzeichen, der sogenannten „Verschriftung“, diente das lateinische Alphabet. Dabei ergab sich die Schwierigkeit, dass es nicht für alle erkannten deutschen Laute, etwa für die Umlaute, eigene Buchstaben gab.

Das folgende Jahrtausend war geprägt von dem Bemühen, sowohl das Schreiben zu vereinheitlichen als auch das Lesen zu erleichtern. Martin Luther trug ab 1522 mit seiner Bibelübersetzung entscheidend zur Verbreitung einer hochdeutschen Schriftsprache bei.

Bereits im Hochmittelalter versuchten Mönche und Kanzleien, Lesehilfen anzubieten. Zur Unterteilung des Textes setzten sie Virgeln, die Großvater als Schrägstriche und die unser Computernachwuchs als „Slashes“ bezeichnen würde. Die Virgel ist inzwischen zum vertrauten Komma geschrumpft.

Um 1300 finden wir auch die ersten Großbuchstaben in den Handschriften, um Anfänge zu markieren und Namen hervorzuheben. Es gibt seitdem keine Reformdiskussion, in der nicht einige Schlauberger die konsequente oder wenigstens die gemäßigte Kleinschreibung fordern, bei der die generelle Großschreibung von Substantiven abgeschafft, die von Eigennamen dagegen beibehalten werden soll.

Allerdings hat die Groß- und Kleinschreibung einen großen Einfluss auf die Lesegeschwindigkeit und auf die Verständlichkeit des Textes. Ende der Fünfzigerjahre war es wieder einmal so weit, dass einer der viel zu vielen Kultusminister unserer Republik die gemäßigte Kleinschreibung forderte. Seinerzeit geisterte folgender Mustersatz über den Regierenden Bürgermeister von Berlin durch die Diskussion: „Willy Brandt hat in Berlin liebe genossen.“ Diese Aussage bleibt in Kleinschreibung unklar. Willy Brandt hat nicht nur in Berlin, sondern allerorten sein Leben lang so viel Liebe genossen, dass die Kenntnis der Stasi über seine Nächte schließlich zum Rücktritt als Kanzler führte, andererseits wird er auch in Berlin auf liebe Genossen getroffen sein, und zwar in der ironischen Steigerung „Freund, Feind, Parteifreund“.

Die Großschreibung überstand seitdem alle Reformen und Reformen der Reform, wenn auch teilweise nicht ohne einige Blessuren. Die Großschreibung erleichtert uns das Lesen, zwingt uns aber beim Schreiben viele Regel und Ausnahmen auf, für deren vollständige Darstellung ich mehrere Folgen dieser Kolumne benötigen würde.

Zum Beispiel: Substantive, Eigennamen, geografische Bezeichnungen, das erste Wort eines selbstständigen Satzes, der Beginn der direkten Rede und das erste Wort einer Überschrift werden großgeschrieben; ebenso andere Wortarten (Verb: lernen), wenn sie substantiviert werden: Das Lernen fällt ihm leicht. Ohne Artikel kann man groß- oder kleinschreiben: Er will [das] Schreiben lernen – oder: Er will schreiben lernen.

Nach Artikel oder unbestimmten Mengenangaben schreibt man groß: der Beste, alles Gute, nichts Neues, etwas Wichtiges. Das gilt auch für feste Redewendungen (im Allgemeinen, den Kürzeren ziehen, auf dem Laufenden sein), für Paarformeln (Jung und Alt, Arm und Reich), für Farb- und Sprachbezeichnungen (bei Rot, auf Deutsch), für Adverbien (im Voraus, im Nachhinein, das Hin und Her), für Präpositionen (das Auf und Ab, das Für und Wider), für Interjektionen (mit Weh und Ach) und für Konjunktionen (ohne Wenn und Aber). Bei mehrteiligen, mit Bindestrich(en) verbundenen Konjunktionen bezieht sich die Großschreibung allerdings nur auf das erste Wort: das Als-ob, das Entweder-oder, das Sowohl-als-auch.

Unbestimmte Zahladjektive werden großgeschrieben, wenn sie wie Substantive gebraucht werden: alles Übrige, das Geringste, jeder Einzelne. Die Zahladjektive viel, wenig, andere bleiben hingegen klein: Die meisten blieben zu Haus. Es gab viele, die nicht mitmachten. Nur wenige waren zufrieden. Doch keine Ausnahme ohne Ausnahme! Wenn diese Wörter nicht als Beifügungen zu Substantiven benutzt werden, darf man auch großschreiben: Die Einen singen, die Anderen tanzen. Aber: Die einen Kinder singen, die anderen Kinder tanzen.