Ein altes Lied kann vieles verändern: Vicky Leandros und Tausende Fußballfans haben es gesungen

Liebe Vicky Leandros,

ich kann nicht behaupten, dass ich bislang ein großer Fan Ihrer Musik war, was auch ein bisschen daran liegt, dass ich sie nicht besonders gut kenne. Aber für mich klebte halt schon immer ein dickes Label auf Ihren Liedern, da stand ziemlich groß „Schlager“ drauf, und dass ich den deutschen Schlager nicht mag, hat vor allem mit der unsichtbaren Jukebox in meinem Kopf zu tun, die immer dann zu spielen beginnt, wenn ich meine Ruhe haben will. Ich hatte das bereits an anderer Stelle in dieser Zeitung erklärt.

Als Kind habe ich Akkordeon spielen gelernt. Wenn ich heute daran zurück denke, dann mit gemischten Gefühlen. Ich habe den Unterricht nicht besonders gemocht, den Klang dieses Instruments aber schon, und das große Dilemma dabei war, dass mein Lehrer ein großes Faible für zwei – wie soll ich sagen – etwas gewöhnungsbedürftige Musikformen hatte, denen ich bis dato noch nie begegnet war: die Wiener Operette und militärische Marschmusik. Die mochte mein Lehrer so sehr, dass er seiner Heimatstadt Munster einen eigenen Marsch komponierte. Er nannte ihn „Gruß aus Munster“ und brachte darin sogar das Donnern der schweren Artillerie vom Truppenübungsplatz unter. Als wir das mit dem Akkordeonorchester im örtlichen Soldatenheim vortrugen, war das bestimmt ein ziemlicher Kracher.

Mit dem deutschen Schlager erging es mir ähnlich. Es war das einzige, was ich hatte, geliebt habe ich ihn nie. Die einzigen Akkordeonisten, die ich im Fernsehen sah, traten im Musikantenstadl auf. Filme wie „Die zauberhafte Welt der Amélie“ und CDs mit der Musik von Yann Tiersen gab es leider noch nicht. Also übte ich in meinem Kinderzimmer die Melodien der „Lustigen Witwe“ und das Donnern der Artillerie, und wenn G. G. Anderson im Fernsehen kam, war das für mich fast so etwas wie eine leichte Vorahnung der Moderne.

Nun liegt es aber leider im Wesen des G. G. Anderson’schen Liedguts, dass die Refrains einem ein Leben lang im Ohr bleiben. Ähnlich geht es mir mit Roland Kaiser, Howard Carpendale, Peter Maffay und Wolfgang Petry. Es sind schon Doktorarbeiten über den deutschen Schlager geschrieben worden, aber nichts erklärt das Bodenlose dieser Stilrichtung so treffend, wie das Best-Of der Albentitel G. G. Andersons seit dem Jahr 1989: „Lass uns träumen“ – „Was ich dir sagen möchte“ – „Ich glaube an die Zärtlichkeit“ – „Vergiss die Liebe nicht“ – „Herzklopfen“ – „Traumreise für zwei“ – „Heut geht‘s uns gut (so soll es bleiben)“ – „Ich lieb dich“ – „Eine Nacht, die nie vergeht“ – „Nein heißt Ja“ – „Für dich“ – „Zeit zum Träumen“ – „Alles Liebe dieser Welt“ – „Eine Insel für uns beide“ – Fortsetzung folgt.

Liebe Vicky Leandros, was hat das alles mit Ihnen zu tun? Nun, ich glaube, ich bin diese Woche Ihr Fan geworden. Das ist eher zufällig passiert. Ich war in einem Fußballstadion, und ganz am Ende, als die Heimmannschaft siegestrunken über das Spielfeld wankte, begann die Stadionregie, eines Ihrer Lieder zu spielen. Viel vom Text habe ich ehrlich gesagt nicht verstanden, aber irgendwann sangen mehrere Tausend Menschen den Refrain am Ende so laut, dass ich noch jetzt eine Gänsehaut bekomme, wenn ich daran zurück denke: „Was kann mir schon geschehn? Glaub’ mir, ich liebe das Leben.“

Ich kannte dieses Lied bislang nicht, wahrscheinlich bin ich die letzte Hamburgerin, der das so geht – aber trotzdem: Ich bin sehr, sehr froh, es entdeckt zu haben. Weil ich glaube, dass es mich ab sofort begleiten wird. Es geht gar nicht so sehr darum, dass dieses Lied von einer Frau handelt, der es im Jahr 1975 herzlich egal ist, ob ihr Mann sie verlässt oder nicht – es geht um den Schluss, den sie daraus zieht: Dass das alles gar nicht so schlimm ist. Weil nichts und niemand diesen Kern in ihr zerstören kann. Ich habe ganz schnell das Label „Schlager“ von Ihrer Musik wieder abgezogen. Stattdessen habe ich das Prädikat „französischer Chanson“ draufgeklebt.

Ich mag es, wenn ich Sätze habe, die mir durchs Leben helfen. Die ich vor mich her sagen kann, wenn Dinge passieren, die ich im ersten Moment nicht ganz einordnen kann. Dann werde ich von nun an Ihr Lied spielen. Als ich gestern Abend das Gebäude des Axel-Springer-Verlags verließ, habe ich es zum Beispiel sehr laut gehört.

An dieser Stelle schreibt Iris Hellmuth jede Woche über das Zusammenleben der Generationen