Zwischen Transittristesse, Superstau und Rastplatz-Gemütlichkeit. Auf den Autobahnen kann man viel über das Land lernen

Wir leben in einem seltsamen Land. Wer daran zweifelt, sollte da reisen, wo Deutschland ganz bei sich ist, auf der Autobahn. Das ganz besondere Verhältnis der Deutschen zu ihren Fernstraßen gründet tief. Ewiggestrige betreiben auf dem Asphalt noch heute Geschichtsklitterung. Demnach soll Adolf Hitler nicht nur mit dem Bau der Trassen Deutschland den Weg aus der Wirtschaftskrise betoniert haben, sondern auch noch den Namen erfunden haben. Beides ist falsch: Die erste Kraftwagenstraße zwischen Köln und Bonn eröffnete – ausgerechnet – im August 1932 der damalige Kölner Oberbürgermeister Konrad Adenauer. Und den Begriff „Autobahn“ prägte im selben Jahr eine Fachzeitschrift. Als eines der wenigen deutschen Wörter fand es Eingang in viele Sprachen.

Zum Mythos für Motorisierte wurde die Autobahn auch durch die überkommene Freie-Fahrt-für-freie-Bürger-Ideologie, der nicht einmal die deutsche Liebe zum Wald und allem Grünen den Garaus machen konnte. Überall in Europa gilt ein Tempolimit; überall außer in Deutschland. Selbst Kulturbeflissene haben ihren Frieden mit den Fernstraßen gemacht. Die Musiker von Kraftwerk haben der Autobahn ein minimalistisches Denkmal gesetzt: Wir fahr'n fahr'n fahr'n auf der Autobahn / Vor uns liegt ein weites Tal / Die Sonne scheint mit Glitzerstrahl / Die Fahrbahn ist ein graues Band / Weiße Streifen, grüner Rand / Jetzt schalten wir das Radio an / Aus dem Lautsprecher klingt es dann: Wir fahr'n auf der Autobahn…

Autobahnen versprechen die Monotonie des Besonderen. Niemand weiß bei der Abfahrt, wann er ankommen wird. Während jede Minute Verspätung der Deutschen Bahn Regale für Empörungsbestseller zu füllen vermag, werten wir jede Verzögerung auf der Autobahn als höhere Gewalt. Vielleicht lieben wir im Grunde unseres Herzens den Stau sogar: Er macht uns vorübergehend alle gleich, den Hedonist im Coupé wie die Großfamilie im Kombi, den Lakai im Lada wie den Besserverdienenden im Bentley. Zugleich ahnen wir: Wenn alle gleich sind, geht wenig voran. So finden wir am Ende des Staus überglücklich zurück in unsere Spur.

Auch sonst erfährt man zwischen Mittelstreifen und Leitplanke viel über das Land: Deutschland ist schön. Und autovernarrt: Die Amerikaner mögen das Drive-in-Restaurant erfunden haben, die Deutschen dafür die Autobahnkirche. Gott mag vielen fern sein, an den Fernstraßen ist er ganz nah. Wie alles im Lande ist sogar die Größe der Kapellen streng reguliert. Mindestens eine Busreisegruppe, so hat es die Konferenz der Autobahnkirchenpfarrer einst verfügt, muss im Gotteshaus Platz finden; zwischen 8 und 20 Uhr muss es geöffnet sein. Allüberall an Deutschlands Fernstraßen laden Rastplätze ein mit Panoramablick von immer gleichen Bänken – links liegt die Bahn, rechts das Land und hinten stinken die Toiletten. Dazwischen tollen die Kinder, auf den Tischen thronen Kühltaschen. Alltag auf Deutschlands Autobahnen hat sich längst in zweiter oder dritter Generation vererbt.

Autobahnen können auch lehrreich sein, sie stehen für Glanz und Elend der Privatisierung. Das Elend dröhnt aus den Lautsprechern – ein Einheitsbrei der Privatradios, gegen das jede Dorfdisco zum Kulturtempel wird. Das Niveau hat nur in den Biotopen der Kultursender überlebt – allerdings in einer Form, für die Zuhörer einen Schwerintellektuellenausweis benötigen. Ein gelungenes Beispiel für Privatisierung sind die Autobahnraststätten, die früher eher gastronomischen Geisterbahnen glichen, inzwischen aber sauber, effektiv und nicht einmal mehr so überteuert sind: So lässt sich dort mitunter günstiger tanken als auf Autohöfen.

Während man über Autobahnen rumpelt, die in den vergangenen Jahren oftmals nur notdürftig geflickt wurden, lassen sich an vielen Abfahrten Investitionsruinen besichtigen. In Bispingen etwa stehen 3,4 Millionen Euro Steuergelder als Ruine in der Landschaft. Eine Skipiste auf Stelzen, ein Winterwelt unter Wellblech, ein Aberwitz mit Abfahrt. Und pleite. Derweil steuern wir gen Norden, eingekeilt zwischen osteuropäischen Lastwagenkorsos und holländischen Wohnwagen. Viel Auto, wenig Raum, Transittristesse. Und eine Maut nicht in Sicht. Ausgerechnet auf Zypern soll es ganz anders sein – kein Land hat pro Kopf mehr Autobahnen. Wir leben auf einem seltsamen Kontinent.

Matthias Iken beleuchtet in der Kolumne „Hamburger KRITiken“ jeden Montag Hamburg und die Welt